Der erfolgreiche Abstieg Europas
ihrer europäischen Verbündeten hat in den letzten zehn Jahren erheblich dazu beigetragen, dass das Ansehen westlicher Werte in anderen Teilen der Welt dramatisch gesunken ist – auch wenn wir dies partout nicht anerkennen und wahrhaben wollen. Wer heute mit der chinesischen Führung kritisch über Chinas Menschenrechtsbilanz diskutieren will, wird sehr schnell erleben müssen, wie der Spieß regelrecht umgedreht wird. Nicht nur wird in China mit wachsendem Selbstbewusstsein auf Eigenständigkeit und einen eigenen zeitlichen und inhaltlichen Umgang mit Menschenrechtsstandards gepocht, die Positionen des Westens werden auch immer stärker prinzipiell infrage gestellt. Für die Kritiker des Westens ist es umso einfacher, Erfolg versprechende Abwehrpositionen zu beziehen, wenn sie auf offensichtliche Täuschungsversuche der nationalen und internationalen Öffentlichkeit hinweisen können. »Ich möchte dies gegenüber unserem Volk und der Welt absolut klarstellen«, sagte der amerikanische Präsident George W. Bush in einem Interview am 6. September 2006 sinngemäß: »Ich habe den Menschen gesagt, dass wir nicht foltern und so ist und bleibt es auch.« 53 Wenn sich ein amtierender US-Präsident derart bei der Unwahrheit erwischen lässt, erleichtert der belegte Mangel an Glaubwürdigkeit sicher nicht den kritischen Diskurs mit Staaten, die Menschenrechte ohnehin verletzen. Berechtigte Verweise auf Abu Ghraib und Guantánamo machen solche Diskussionen verständlicherweise ausgesprochen schwierig.
Niemand hat das deutlicher formuliert als der Hongkonger Geschäftsmann Ronnie Chan, der in Fragen moralischer Autorität davon ausgeht, dass eine neue Balance entstanden ist, die dem Westen nicht automatisch eine höhere Position zuweist. Er schreibt: »Das System, das der Westen für überlegen hält, hat versagt. Warum sollten Entwicklungsländer diesem Modell jetzt blind folgen? Die moralische Überlegenheit des Westens kam auch durch seine Ideologie zum Ausdruck. China wurde daran gehindert, ein Mitglied der führenden Gruppe der acht zu werden, vermutlich wegen seines Mangels an Demokratie westlichen Stils. Jetzt schlagen einige in Amerika eine G2 nur aus den USA und China vor. Wenn sich der Schwerpunkt der Entscheidungsfindung aber auf eine G2 verlagert, was bedeutet das für Demokratie? Der Westen hat ein moralisches Dilemma. Welche Nation wird jetzt den moralischen Führungsanspruch für sich erheben? Sicherlich nicht der sich entwickelnde Osten, denn seine Institutionen sind Not leidend. Aber in Anbetracht des moralischen Rückzugs des Westens befinden sich beide Seiten jetzt auf gleicher Augenhöhe. Das Predigen des Westens muss aufhören.« 54
Das sind deutliche Worte. Die Kritik an der Wertepolitik des Westens wird noch dadurch weiter verstärkt, dass insgesamt in den Aufsteigerökonomien das politische Selbstbewusstsein so deutlich gewachsen ist, dass man Forderungen nach einer verbesserten Menschenrechtspolitik, überhaupt einer wertegeleiteten Politik des Westens, offensiv, gelegentlich sogar schon mit erkennbarem offenem Widerstand entgegentritt. Längst werden nicht nur in China und Indien, sondern auch in anderen Teilen der Welt Forderungen laut, der Westen solle aufhören, Werteimperialismus zu betreiben und den Rest der Welt zu bevormunden.
Die westliche Politik täuscht sich massiv, wenn sie von der Annahme ausgeht, 20 Jahre nach dem moralischen und politischen Sieg im Ost-West-Konflikt immer noch von einer Position moralischer und wertegeleiteter Überlegenheit mit dem Rest der Welt umgehen zu können. Die Annahme einer solchen Überlegenheit gehört zu den Lebenslügen des Westens.
Schließlich gilt es, einen weiteren Gesichtspunkt nicht zu übersehen: Den Westen zeichnet bei allen vollmundigen Erklärungen des Gegenteils ein bemerkenswertes Misstrauen in die Wirkungsweise der eigenen Werte aus, deren Glaubwürdigkeit man annimmt, mit politischen Bindeklauseln in Verträgen verordnen zu müssen, anstatt sich auf die Kraft der Diffusion zu verlassen. Die Erwartung, dass sich »unsere« Werte von heute auf morgen in anderen Teilen der Welt durchsetzen lassen, grenzt an Realitätsverlust, selbst wenn wohlmeinende Eile im Prinzip verständlich ist.
Lapidar und doch sehr treffend auf den Punkt gebracht, konnte man bei »Zeit online« nachlesen, wie Werte auch und vor allem durch wirtschaftliches Handeln beeinflusst werden: »Wer die wirtschaftliche Kraft hat, bestimmt auch, welche Werte zum Zuge
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