Der erfolgreiche Abstieg Europas
Kritik an westlicher Bevormundung und Dekadenz wird in solchen Debatten sehr schnell der Versuch, ein grundlegend anderes Politik- und Systemmodell zu entwerfen, dessen Rahmenbedingungen darin bestehen, dass sich die jeweils herrschende Elite als Monopolist verhält, der umfassende Machtansprüche stellt und keine legitime Opposition als Konkurrenz duldet. Gesellschaftspolitisch agiert sie als Kontrolleur, der unerwünschte und dem wirtschaftlichen Entwicklungsprozessabträgliche Spannungen kanalisiert und notfalls unterdrückt, während sie sich im Bereich der Wirtschaft als Katalysator versteht und die Aufgabe übernimmt, möglichst optimale Rahmenbedingungen für ansonsten nicht staatlich reglementiertes Wirtschaftsverhalten zu entwerfen.« 75
Es ist mehr als fraglich, ob die Ereignisse in Tunesien, Ägypten, Libyen und anderen arabischen Staaten, die seit Anfang 2011 die Weltöffentlichkeit in Atem halten, an dieser Fundamentalherausforderung viel ändern werden. Zu einem Zeitpunkt, wo sich ein Erlahmen der Hoffnung auf fortschreitende Demokratisierung breitzumachen schien, taucht wieder einmal unser Truthahn auf. Und ausgerechnet aus Ländern, an denen die Demokratisierungswelle von 1989 vorbeigegangen war, kommen neue Signale der Hoffnung.
In den Demokratiediskussionen der vergangenen beiden Jahrzehnte spielte die arabische Welt keine Rolle. Sie bildete die markante Ausnahme, weil sie immun gegen den Virus der Demokratie zu sein schien. Heute hat sich das alles ähnlich schnell wie 1989 geändert. Ein winziger Auslöser, die Selbstverbrennung eines tunesischen Geschäftsmannes, hat die gesamte Region in Brand gesteckt. Überall in der arabischen Welt gehen Menschen auf die Straße, um gegen ihre Regierungen zu demonstrieren. Und langjährige Garanten für innenpolitische und regionale Stabilität sehen sich außerstande, diesem Druck machtpolitisch etwas Erfolgversprechendes entgegenzusetzen. Ist das also der lang ersehnte Beginn einer Demokratisierung der arabischen Welt? Vorsicht und Zweifel sind mehr als angebracht! Schon nach wenigen Tagen und Wochen zeigt sich, dass es eigentlich relativ leicht ist – der Despot Gaddafi bildet mit seinem Krieg gegen das eigene Volk (zumindest zeitweilig) eine Ausnahme –, autokratische Herrscher selbst nach Jahrzehnten im Amt aus demselben zu vertreiben. Eine handlungsfähige, als legitim erachtete und effiziente Regierung ins Amt zu bringen, steht schon auf einem anderen Blatt. Und sicherlich muss man auch bezweifeln, ob Demokratie überhaupt die Triebkraft hinter den Protesten ist. Die meisten der Demonstranten wollen nicht ein Mehr an Demokratie. Einige ausländische Beobachter sind sogar davon überzeugt, dass es ihnen egal ist, von wem und wie sieregiert werden – solange eines geschieht: Die Schaffung von Arbeitsplätzen, die es dem Heer an durchaus gut ausgebildeten Jugendlichen erlaubt, eine Perspektive der Eingliederung in eine Gesellschaft zu haben, in der sie ihr persönliches materielles Auskommen finden können.
Demokratische Selbstüberforderung
Wer über den zunehmenden Systemwettbewerb mit Autokratien nachdenkt, ist gut beraten, zunächst die selbstkritische Frage nach der Leistungsfähigkeit demokratischer Systeme unter den Bedingungen technologisch veränderter Grundlagen und einer entstehenden multipolaren Ordnung nachzudenken. Hier zeigen sich drei wesentliche Herausforderungen, auf die Demokratien völlig unabhängig von ihren Wettbewerbern überzeugende Antworten finden müssen: die Bewältigung von Informationsfluten, die Gewährleistung von Sicherheit und Wohlstand, die Schaffung von Legitimität. In all diesen Bereichen ist die Vermeidung von Selbstüberforderung, die letztlich Stabilität und Bestand auch von demokratischen Ordnungen gefährden könnte, oberstes Gebot.
Demokratien, wie sie zunächst im europäischen Kontext entstanden sind, waren eng gebunden an das Phänomen eines aufkommenden Mittelstandes. Wer nicht mehr vom Aufwachen morgens bis zum Einschlafen abends mit der Jagd nach der Befriedigung von Primärbedürfnissen beschäftigt war, wer darüber hinaus auch noch in wachsendem Maße über Bildung verfügte und gelernt hatte, sich mit Traditionen und Visionen kritisch auseinanderzusetzen, der konnte damit beginnen, seine zeitlichen Spielräume und ideellen Erwartungen in politisches Engagement umzusetzen.
Dies war so in der Geschichte europäischer Demokratien. Ob es auch heute noch so ist, mag mit Fug und Recht be-zweifelt
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