Der erfolgreiche Abstieg Europas
Sicherheit wird in wachsendem Maße vom Individuum auf die Politik verlagert, und sie droht, Politik – gerade auch demokratische Politik – nachhaltig zu überfordern.
Bei allen mittlerweile längst globalisierten Gefahrenherden für menschliches Zusammenleben lässt sich ein Teufelskreis beobachten, den Ulrich Beck wie folgt formuliert: »Denn Gefahren werden industriell erzeugt, ökonomisch externalisiert, juristisch individualisiert, naturwissenschaftlich legitimiert und politisch verharmlost. Dass dadurch Macht und Glaubwürdigkeit von Institutionen zerfallen, tritt erst dann hervor, wenn das System auf die Probe gestellt wird ...« 79 Nicht immer sind Reaktionen demokratischer Systeme auf steigende Sicherheitsrisiken mit einer Verbesserung der demokratischen Standards verbunden. Die Bekämpfung des Terrorismus hat in den USA und Europa zu erheblichen Einschnitten individueller Freiheiten, insbesondere im Bereich Datenschutz geführt. Die Kombination aus politisch Gewolltem und technologisch Machbarem hat aus freien Bürgern gläserne Untertanen gemacht. In der Güterabwägung verliert das Individuum in seinem Freiheitsstreben gegen das kollektive Recht auf Sicherheit.
Demokratien und ihre marktwirtschaftliche Basis werden in diesen Debatten als siamesische Zwillinge behandelt. Bis in die Mitte der 80er-Jahre tobte in den westlichen Sozialwissenschaften eine Debatte über die Voraussetzungen erfolgreicher Demokratisierung und wirtschaftlicher Entwicklung. Modernisierungstheoretiker empfahlen unterentwickelten Staaten die Einbindung in das kapitalistische Weltsystem, Dependenztheoretiker das genaue Gegenteil. Bibliotheken füllten sich mit Büchern und Artikeln, die die Frage nach Henne und Ei zu beantworten suchten. Braucht man zuerst ökonomische Entwicklung, um dann irgendwann demokratische Strukturen etablieren zu können, sollte beides gleichzeitig geschehen oder ist Demokratisierung überhaupt nicht erst die Voraussetzung für erfolgreiche nachholende Entwicklung?
Diese Fragen sind durch den erfolgreichen Entwicklungsweg insbesondere ostasiatischer Systeme beantwortet: Grundlage für nachhaltig erfolgreiche Demokratisierung ist wirtschaftlicher Erfolg, die daraus erwachsende Herausbildung von partizipationswilligen Mittelschichten und die Bereitschaft autoritärer Regime, ihr Machtmonopol friedlich in Strukturen demokratischer Konkurrenz zu überführen.
Für geraume Zeit vermochte die Debatte um »asiatische Werte« von diesen Einsichten abzulenken. Eine neuerliche Debattenwut erfasste die Zunft, als ausgewiesene Autokraten – zu den Wortführern gehörten der malayische Ministerpräsident Mahatir und der Oberbürgermeister Tokios Ishihara 80 – behaupteten, westliche Demokratien und asiatische Werte seien unvereinbar. Dabei ging es nicht um Realität, denn hier hatten Entwicklungen in Taiwan und Südkorea längst den praktischen Beweis erbracht, dass Formen westlicher Demokratie sehr wohl in asiatischen Gesellschaften möglich sind. Es ging auch nicht um interkulturellen Dialog, sondern nur um den verzweifelten Versuch einiger asiatischer Autokraten, die demokratischen Geister, die man durch den Zauber marktwirtschaftlicher Erfolge geweckt hatte, wieder in die Flasche zu befördern. Die Debatte verstummte schlagartig mit dem Einsetzen der Asien-Krise im Jahre 1997.
Für alle Fälle erfolgreicher Transformation zur Demokratie in unterschiedlichen Weltregionen gilt: Der Zugang zur Kontrolle von politischer Herrschaft, der Modus der Festlegung von politischen Agenden, Gewaltenteilung und Freiheitsrechte sind Kernbestandteile repräsentativer Demokratie, die im euro-atlantischen Kontext entwickelt, aber auch in anderen Kulturen und Regionen erfolgreich zur Anwendung kommen können. Umgekehrt gilt: Die Chancen auf nachhaltige Durchsetzung von Demokratie sind umso schlechter, je segmentierter eine Gesellschaft ist, je geringer ihr sozioökonomisches Entwicklungsniveau ist und je stärker soziale Machtressourcen auf exklusive Entscheidungsträger konzentriert sind.
Mittlerweile hat sich aber gerade in Anbetracht der Erfahrungen in den Transformationsgesellschaften Mittel- und Osteuropas die Erkenntnis durchgesetzt, dass es deswegen noch lange keinen geschichtsnotwendigen Determinismus hin zur westlichen Demokratie gibt, wenn sich Demokratien nicht langfristig als fähig erweisen, interne Problemlösungskapazitäten aufzubringen. Im Vergleich mit kommunistischen Systemen haben sie dieser Herausforderung
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