Der erfolgreiche Abstieg Europas
werden. Gilt nicht viel eher ein geradezu verheerendes Verdikt der Auswirkungen moderner, massenmedial bestimmter Unterhaltung, die aus freien Bürgern Marionetten der Massenverdummung machen? Der französische PhilosophPascal Bruckner schreibt es uns ins Stammbuch: »Wenn die Armen reich werden und eine Mittelschicht bilden, widmen sie ihre Freiheit weder der Politik noch der Kultur, sondern vor allem der Unterhaltung. ... Das Ende des Elends und der Unwissenheit sollte mit der Aneignung umfassender Humanität durch jeden Einzelnen einhergehen. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hat: Bei der Mehrheit der Leute siegt die angenehme Verdummung der Unterhaltung über die vielen Möglichkeiten zum Engagement und zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit. Auf letzterem Gebiet hat sich seither nicht viel getan. Früher wollten sich die Menschen von anstrengender Arbeit erholen; heute wollen sie vor der Öde freier Zeit fliehen, mit der sie nichts anfangen können.« 76
Mediale Massenverdummung im digitalen Zeitalter kommt uns von daher gerade gelegen, bietet sie doch ein Maximum an Flucht mit einem Minimum an Aufwand, eben die moderne Variante von »panem et circenses«. Statt Probleme zu lösen, fliehen wir in Scheinwelten. Ein Knopfdruck genügt, und die jeweils gewünschte Mischung aus Abenteuer, Glamour und der Romantik einer »schönen neuen Welt« verbreitet sich wohlig in unseren Wohnzimmern. Und eine zunehmende Zahl unserer Kinder kann zwar mit einem Joystick eine Figur über einen kleinen Bach lenken, aber viele von ihnen haben selbst noch keinen in der Wirklichkeit gesehen, geschweige denn die Erfahrung gemacht, an einem Bach zu stehen und auf die andere Seite zu springen – oder manchmal eben auch mittendrein.
Die steigende Komplexität unseres Daseins verlangt eigentlich immer schnellere und komplexere Entscheidungen von uns. Statt diese zu treffen, verzichten wir auf unseren Status als mündige Bürger und versuchen dem Zwang zu entkommen, grundlegende Entscheidungen selbst treffen zu müssen. Es stört uns wenig, dass wir dabei zu übersehen scheinen, dass es auch ein Leben außerhalb von Konsumtempeln und nach dem Abschalten des Fernsehers gibt. Es ist einer der großen Irrtümer unserer Zeit, dass mit mehr Informationen eine bessere Demokratie einhergehe. Das genaue Gegenteil könnte der Fall sein. Durch Informationsüberlastung bleiben die wenigen im Vorteil, die über angemessene Technikendes Informationsmanagements verfügen, während die breite Masse von emotionalen Bildern getrieben, medial ferngesteuert wird und letztlich das Interesse an Politik, die »eh keiner mehr versteht«, zu verlieren droht.
Die Überlastung durch Informationsfluten gilt aber nicht nur für Individuen, sie gilt auch gerade für demokratische Systeme, die zumindest in der Theorie auf eine gut informierte Zivilgesellschaft angewiesen sind, um überhaupt funktionieren zu können. Und sie gilt erst recht für Grundleistungen, die jedes politische System erbringen muss, wenn es sein Überleben sichern will. Sicherheit zu gewährleisten ist das erste dieser Grundmuster.
Das Goldene Zeitalter der Sicherheit geht offensichtlich (wieder einmal?) zu Ende. Sicherheitsdenken, das Streben nach Absicherung persönlicher Risiken durch staatliche Fürsorge, war eines der zentralen Denkmuster, die demokratische Politik der letzten Jahrzehnte begleitet haben. Das Phänomen als solches ist weder verwunderlich noch neu. Schon Stefan Zweig hat es in seinen Lebenserinnerungen mit folgenden Worten beschrieben: »Dieses Gefühl der Sicherheit war der erstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal. Nur mit dieser Sicherheit galt das Leben als lebenswert, und immer weitere Kreise begehrten ihren Teil an diesem kostbaren Gut.« 77
Es ist tatsächlich so banal: Der Mensch strebt nach Sicherheit. Er strebt danach, Unwägbarkeiten und Unsicherheiten seines täglichen Lebens möglichst zu beseitigen. Längst aber steht er nicht mehr vor dem Problem, natürliche Unsicherheiten zu reduzieren, sondern umzugehen mit den Unsicherheiten, die er durch menschliches Zusammenleben selbst schafft – also »mit zivilisatorisch erzeugten Gefahren, die sich weder räumlich noch zeitlich noch sozial eingrenzen lassen.« 78 Dieses Streben nach Sicherheit verändert Politik. Politik wird zum Maßstab des Umgangs mit Unsicherheit – politisches Handeln wird gemessen an der Fähigkeit, Unsicherheiten zu beseitigen. Die Verantwortung für
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