Der erfolgreiche Abstieg Europas
kann, wenn Menschen ihre wachsenden Bildungspotenziale auch dafür einsetzen, über Politik und politische Ordnungen nachzudenken, ist eine offene Frage.
Drittens bleibt trotz aller ökonomischen Erfolge keines der autokratischen Aufsteigerländer von sozialen Spannungen erheblichen Ausmaßes verschont. Autokratien fehlen die Mechanismen institutionell geregelter Konfliktlösung. Also können auch jederzeit mögliche Verwerfungen zu tief greifenden Destabilisierungen führen. Das Risiko politischer Unruhen hängt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen von Autokraten. Die nervöse Reaktion der chinesischen Führung auf die »Jasmin-Revolution« in der arabischen Welt spricht Bände. Chinas Führung befürchtet, dass der Virus des Regimesturzes über das Internet verbreitet auch im eigenen Land ankommen könnte. In China erinnert man sich noch sehr genau an den Satz von Mao Zedong, dass ein einziger Funke ein Präriefeuer entfachen könne.
Viertens sind Autokratien nicht per se leistungsfähige Systeme. Dafür gibt es viel zu viele Beispiele, die das genaue Gegenteil nahelegen. In den allermeisten Fällen verbinden sich autokratische Herrschaftsformen mit ausgesprochen ausbeuterischen Strukturen und kommen wirtschaftlich kaum von der Stelle. Es liegt am Ende also an den Eliten, die autokratische Herrschaftsstrukturen bestimmen. Hier stellt sich die aus heutiger Sicht nicht zu beantwortende Frage, ob das, was für die Elitenleistung der Vergangenheit mit all ihren Erfolgen gilt, auch für die Nachfolgegenerationen gelten wird. Automatismen anzunehmen ist an dieser Stelle ausgesprochen fahrlässig. Für China kann man mit Fug und Recht feststellen, dass die beiden letzten Führungsgenerationen über 30 Jahre hinweg keine nennenswerten Fehler gemacht und China dorthin gebracht haben, wo es heute ist: ein angesehenes und zunehmend einflussreiches Land in der Spitzengruppe der Staaten. Ob das in Anbetracht der gewaltigen Probleme, die China hat, auch den Nachfolgegenerationen gelingen kann, bleibt für den Augenblick offen. Die Tatsache, dass in der Vergangenheit kein Fehler gemacht worden ist, ist keine Garantie, dass ein solcher Fehler nicht morgen, übermorgen oder in zehn Jahren passieren kann. Das mahnende Beispiel des Truthahns sollte uns in Erinnerung bleiben. Autokratien tanzen insofern auf dem Vulkan ungesicherter Personalentscheidungen, wachsender sozialer Spannungen, fehlender Legitimitätsgrundlagen und dem fortschreitenden Zerfall wesentlicher Herrschaftsmethoden, auf die sie in der Vergangenheit verlässlich zurückgreifen konnten.
Demokratie und die Wirkungsmacht von Ideen
Ideen politischer Ordnung lassen sich nur dann über den zeitlichen und geografischen Raum ihrer Entstehung verbreiten, wenn sie eine eigenständige Attraktivität aufweisen können. Nur selten lassen sich Ideen rein imperialistisch verbreiten, weil sie denen zu eigen sind, die politische Ordnungen von außen schaffen. Dies gilt sogar für die Leistungsfähigkeit des europäischen Imperialismus und begründet gleichzeitig eine der wesentlichen Ursachen für den Zerfall des Sowjetimperiums. Sein Niedergang begann lange vor der praktischen Erosion von Politik und Wirtschaft längst in den Köpfen der Menschen. Dagegen schreibt William Pfaff: »Bei den erfolgreichen Imperien war es anders. Wer von Rom erobert wurde, wollte römischer Bürger werden. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wollten die Eliten aus dem kolonialen Indien, aus Indochina und Afrika in Oxford oder in Paris studieren. Indonesier gingen nach Leiden und wurden zu Spezialisten für germanische Sprachen. Die Vorstellung, dass ein junger Pole oder Ungar der 60er- oder 70er-Jahre sich danach sehnt, nach Moskau zu gehen, um einen Platz unter den dortigen Dichtern und Gelehrten zu finden, sich die Sprache und den Lebensstil anzueignen, die Moden nachzuahmen, die dortige Geschichte und Literatur zu studieren, um dann diese Zivilisation in sein eigenes Land zurückzubringen, ist ganz einfach lächerlich. Sein Vater und Großvater hatten das Verlangen gehabt, in Berlin, in Wien, Paris oder New York zu studieren – und das wollte er auch. In dem halben Jahrhundert sowjetischer Besatzung Osteuropas gab es nichts, was Bekehrungen zu den Werten und Ideen der Sowjetunion zur Folge gehabt hätte.« 81 Diese Form der Attraktivität müssen die Autokratien, die sich heute anschicken, Gegenmodelle zum Westen zu entwerfen, erst noch unter Beweis stellen. Ausgeschlossen ist wohl nicht,
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