Der Erl�ser
die Eisen nicht zu weit auseinanderreißen konnte.
Er hörte den anderen kurz telefonieren, dann wurde es still.
Er legte das erste Kettenglied über das Ende eines der Gitterstäbe, und statt zu ziehen, begann er zu drehen. Nach einer Viertelumdrehung verkantete sich die Kette. Er versuchte weiterzudrehen, aber sie wollte sich nicht mehr rühren. Beim nächsten Versuch rutschten seine Hände an der Kette ab.
»Hallo?« Wieder die Stimme aus dem Wohnzimmer.
Er holte tief Luft. Schloss die Augen und sah seinen Vater im kurzärmeligen Hemd vor einem Bündel Armierungseisen auf der Baustelle stehen. Die Muskeln seiner Oberarme spannten sich, als er dem Jungen zuflüsterte: »Schieb die Zweifel beiseite. Hier ist nur Platz für den Willen. Das Eisen hat keinen Willen, und deshalb verliert es jedes Mal.«
Tore Bjørgen trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Rokokospiegel mit den perlgrauen Muscheldekorationen. Der Besitzer des Antiquitätenladens hatte ihm erzählt, Rokoko sei eigentlich ein Schimpfwort, das von dem französischen Wort rocaille abstammte, was so viel wie »grotesk« bedeute. Tore hatte im Nachhinein kapiert, dass das erst den Ausschlag gegeben hatte, einen Privatkredit aufzunehmen, um die zwölftausend Kronen für diesen Spiegel aufzubringen.
Die Zentrale der Polizei hatte versucht, ihn mit dem Morddezernat zu verbinden, doch dort war niemand ans Telefon gegangen, weshalb sie es jetzt bei der Kriminalwache probierten.
Er hörte Geräusche aus dem Schlafzimmer. Das Klirren von Ketten am Bettgitter. Dann war Stesolid wohl doch nicht das effektivste Schlafmittel.
»Kriminalwache.« Als Tore Bjørgen die tiefe, ruhige Stimme hörte, brach ihm der Schweiß aus.
»Ja, es geht … es geht um die Belohnung, für … für diesen Typen, der den Heilsarmeesoldaten erschossen hat. «
»Mit wem spreche ich, und von wo aus rufen Sie an? « »Tore. Aus Oslo.«
»Geht das ein bisschen genauer?«
Tore schluckte. Er hatte – aus guten Gründen – die Rufnummeranzeige unterdrückt, so dass NUMMER UNBEKANNT im Display der Kriminalwache stand.
»Ich kann Ihnen helfen.« Tores Stimme klang deutlich höher. »Zuerst muss ich wissen «
»Ich habe ihn hier. Festgekettet.«
»Sie sagen, Sie haben jemand festgekettet?«
»Mensch, das ist doch der Mörder. Er ist gefährlich, ich habe ihnselbst mit einer Pistole im Restaurant gesehen. Christo Stankic heißt der. Ich habe den Namen in der Zeitung gelesen.«
Am anderen Ende der Leitung war es einen Moment still. Dann war die Stimme wieder da, ebenso tief, aber etwas weniger gelassen: »Bleiben Sie jetzt ruhig. Sagen Sie mir, wer Sie sind und wo Sie wohnen, ich schicke dann sofort jemand.«
»Und was ist mit der Belohnung?«
»Wenn durch Ihren Hinweis die richtige Person festgenommen werden kann, werde ich bestätigen, dass Sie uns geholfen haben.« »Und dann bekomme ich die Belohnung sofort?«
»Ja.«
Tore dachte nach. An Kapstadt. An Weihnachtsmänner in brütender Hitze. Es knackte im Telefon. Er holte tief Luft, um zu antworten, und blickte in seinen Zwölftausendkronenrokokospiegel. Im gleichen Moment wurden Tore Bjørgen drei Dinge klar: dass das Knacken nicht aus dem Telefon gekommen war. Dass die Handschellen in einem Einsteigerpaket für 599 Kronen aus dem Internet nicht erste Wahl sind. Und dass er mit großer Wahrscheinlichkeit sein letztes Weihnachtsfest bereits gefeiert hatte.
»Hallo?«, fragte die Stimme im Telefon.
Tore Bjørgen hätte gerne geantwortet, aber eine dünne Nylonschnur mit blanken Kugeln, die wie Weihnachtsschmuck aussahen, hatte die Luftzufuhr unterbunden, die notwendig ist, um die Stimmbänder in Schwingung zu versetzen.
KAPITEL 19
Freitag, 18. Dezember. Container
V ier Menschen saßen in dem Auto, das im Dunkeln zwischen hohen Schneewällen durch das Schneegestöber fuhr.
»Zum Hof Østgård müssen Sie hier oben nach links«, sagte Jon vom Rücksitz aus. Er hatte Thea den Arm um die verkrampften Schultern gelegt.
Halvorsen bog von der Landstraße ab. Harry sah vereinzelte Gehöfte, die wie Leuchttürme auf kleinen Anhöhen oder in lichten Wäldchen lagen.
Als Harry verkündet hatte, dass Roberts Wohnung kein sicheres Versteck mehr war, hatte Jon selbst den Østgård vorgeschlagen. Und darauf bestanden, dass Thea mitkam.
Halvorsen fuhr zwischen einem weißen Wohnhaus und einer roten Scheune hindurch auf den Hofplatz.
»Wir sollten den Nachbarn anrufen und ihn bitten, uns mit dem Traktor ein
Weitere Kostenlose Bücher