Der Erl�ser
Stunden nicht gezählt, die er – den Pappbecher vor sich – im Schneidersitz auf dem Bürgersteig gesessen und das Kommen und Gehen auf der Gøteborggata beobachtet hatte. Doch das Tageslicht wurde bereits wieder schwächer. Er schob die Hand in die Tasche.
Das erbettelte Geld reichte sicher für einen Kaffee, etwas zu essen und hoffentlich auch noch für eine Schachtel Zigaretten.
Er hastete zur Kreuzung. Dort war das Café, in dem er den Pappbecher bekommen hatte. Und da drinnen gab es auch ein Telefon, er hatte es an der Wand gesehen. Doch dann schob er den Gedankenbeiseite. Vor dem Café blieb er stehen, zog sich die blaue Kapuze vom Kopf und betrachtete sein Spielgelbild im Fenster. Kein Wunder, dass ihm die Passanten den Bettler abnahmen. Sein Bart wuchs schnell, und im Gesicht hatte er noch immer Rußstreifen von seiner Nacht im Container.
Im spiegelnden Fenster sah er auch, dass die Ampel auf Rot schaltete und neben ihm ein Wagen hielt. Er warf einen Blick ins Innere des Autos, als er die Hand auf die Klinke legte. Und erstarrte. Der Drache. Der serbische Panzer. Jon Karlsen. Auf dem Beifahrersitz. Nur zwei Meter von ihm entfernt.
Er ging ins Café, trat eilig ans Fenster und beobachtete das Auto. Den Mann am Steuer glaubte er schon einmal gesehen zu haben, er wusste aber nicht, wo. Doch, im Wohnheim. Er war gemeinsam mit Harry Hole da gewesen. Auf dem Rücksitz saß eine Frau.
Die Ampel schaltete auf Grün. Er stürmte nach draußen und sah die weiße Abgaswolke des Autos, das auf der Straße am Park langsam beschleunigte. Dann lief er ihm hinterher. Weit vorne sah er den Wagen in die Gøteborggata einbiegen. Er fasste in seine Tasche. Spürte die Scherbe von der Fensterscheibe an den beinahe gefühllosen Fingern. Seine Beine gehorchten ihm nicht, sie fühlten sich an wie tote Prothesen, und ihm kam der absurde Gedanke, sie könnten wie Eiszapfen brechen, sollte er ins Stolpern geraten.
Der Park mit den Bäumen, dem Kindergarten und den Grabsteinen hüpfte vor seinen Augen wie ein defekter Film auf der Leinwand. Seine Hand fand die Pistole. Er musste sich an der Scherbe geschnitten haben, denn der Griff fühlte sich klebrig an.
Halvorsen parkte unmittelbar vor dem Eingang der Gøteborggata 4. Jon und er stiegen aus, um sich die Beine zu vertreten, während Thea nach oben ging, um ihr Insulin zu holen.
Halvorsen ließ seinen Blick über die menschenleere Straße schweifen. Jon stapfte unruhig durch die Kälte. Durch das Autofenster sah Halvorsen die Mittelkonsole mit dem Dienstrevolver im Halfter, das er abgenommen hatte, weil es ihn beim Fahren störte. Sollte etwas geschehen, hätte er die Waffe in zwei Sekunden griffbereit. Er schaltete sein Handy ein und sah, dass er während der Fahrt einen Anruf erhalten hatte. Nachdem er die Mailbox angewählt hatte,kündigte die vertraute Stimme ihm die neue Nachricht noch einmal an. Dann kam das Piepen, und eine unbekannte Stimme begann zu sprechen. Halvorsen lauschte mit wachsender Verwunderung. Er sah, dass Jon auf die Stimme im Handy aufmerksam wurde und näher kam. Halvorsens Verwunderung ging über in Unglauben.
Als er auflegte, sah Jon ihn fragend an, doch Halvorsen sagte nichts, sondern wählte rasch eine andere Nummer.
»Was war das denn?«, fragte Jon.
»Das war ein Geständnis«, sagte Halvorsen kurz.
»Und was tun Sie jetzt?«
»Ich sage Harry Bescheid.«
Halvorsen blickte auf und sah Jons verzerrtes Gesicht. Seine Augen waren groß und schwarz geworden und schienen durch ihn hindurchzublicken, an ihm vorbei.
*
Harry ging durch den Zoll und trat in das bescheidene Terminalgebäude des Flughafens Pleso. Er steckte seine Visa-Karte in einen Bankautomaten, der ihm ohne Protest Kunas im Wert von tausend Kronen gab. Die Hälfte steckte er in einen braunen Umschlag, ehe er nach draußen ging und sich in einen Mercedes mit blauem Taxischild setzte.
»Hotel International.«
Der Taxifahrer legte den Gang ein und fuhr schweigend los.
Aus einer tief hängenden Wolkendecke regnete es auf braune Äcker mit vereinzelten Schneeresten zur Autobahn hin. Auf ihr fuhren sie in nordwestlicher Richtung durch die hügelige Landschaft nach Zagreb.
Bereits nach einer Viertelstunde sah er die Stadt in Form von Betonblöcken und Kirchtürmen Gestalt annehmen, die sich vor dem Horizont abzeichneten. Sie fuhren an einem schwarzen, stillen Fluss vorbei, den Harry für die Sava hielt. Eine breite Straße, die für den bescheidenen Verkehr
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