Der Erl�ser
tief, als die Türglocke heftig klingelte und ein großer, breitschultriger Mann in einem dunklen Anzug hereinkam und auf die Kasse zuging.
»Harry Hole, Polizei«, sagte der Mann, und einen kurzen, panischen Moment lang schoss Imtiaz der Gedanke durch den Kopf, in Norwegen könnte Weihnachtsdekoration in allen Geschäften gesetzlich vorgeschrieben sein.
»Vor ein paar Tagen stand hier vor dem Geschäft ein Bettler«,sagte der Polizist. »Ein Mann mit roten Haaren und so einem Bart.« Er fuhr sich mit den Fingern über die Oberlippe und an den Mundwinkeln nach unten.
»Ja«, sagte Imtiaz, »den kenne ich, der gibt bei uns immer seine Pfandflaschen ab. «
»Wissen Sie, wie er heißt?«
»Fanta.«
»Wie bitte?«
Imtiaz lachte. Er hatte wieder gute Laune. »Ja, wegen der Pfandflaschen, die er im Park sammelt und hier einlöst «
Harry nickte.
Imtiaz zuckte mit den Schultern. »Mein Neffe ist auf die Idee gekommen «
»Hm, nicht schlecht. Dann «
»Nein, ich weiß nicht, wie er heißt. Aber ich weiß, wo Sie ihn finden können.«
Espen Kaspersen saß wie gewöhnlich in der Deichmann’schen Hauptbibliothek in der Henrik Ibsens gate 1 hinter einem Stapel Bücher, als er auf die Person aufmerksam wurde, die sich über ihn beugte. Er blickte auf.
»Hole, Polizei«, sagte der Mann und setzte sich ihm gegenüber auf die andere Seite des langen Tisches. Espen warf einen Blick auf das lesende Mädchen am Kopfende des Tisches und schaute ihn sich dann genauer an. Es kam vor, dass irgendwelche Frischlinge am Schalter seine Tasche sehen wollten, wenn er nach draußen ging. Und zweimal war jemand zu ihm gekommen und hatte ihn gebeten zu gehen, weil er so stank, dass sich die anderen nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnten. Aber von der Polizei war er noch nie angesprochen worden. Außer beim Betteln auf der Straße.
»Was lesen Sie da?«, fragte der Polizist.
Kaspersen zuckte mit den Schultern. Er sah auf den ersten Blick, dass es Zeitverschwendung war, mit diesem Mann über sein Projekt zu reden.
»Søren Kierkegaard?«, fragte der Polizist und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf die Buchrücken. »Schopenhauer. Nietzsche. Philosophie. Sind Sie ein Denker?«
Espen Kaspersen schnaubte. »Ich versuche, den rechten Weg zu finden. Und das beinhaltet die Frage, was es heißt, ein Mensch zu sein.«
»Macht das denn nicht einen Denker aus?«
Espen Kaspersen musterte den Mann. Vielleicht hatte er sich in ihm getäuscht.
»Ich habe mit dem Gemischtwarenhändler in der Gøteborggata gesprochen«, sagte der Polizist. »Er hat mir gesagt, dass Sie hier jeden Tag zu finden sind. Außer Sie sitzen bei ihm in der Straße und betteln.«
»Das ist das Leben, für das ich mich entschieden habe, ja.«
Der Polizist nahm ein Notizbuch heraus, und Espen Kaspersen nannte ihm den vollen Namen und die Adresse seiner Großtante in der Hagegata.
»Und Ihr Beruf?«
»Mönch.«
Espen Kaspersen sah zu seiner Befriedigung, dass der Polizist es ohne zu murren notierte.
Dann nickte er. »Nun, Espen. Sie sind nicht drogenabhängig, warum betteln Sie dann?«
»Weil es meine Aufgabe ist, den Menschen einen Spiegel vorzuhalten, damit sie sich selbst sehen können und erkennen, was groß und was klein ist.«
»Und was ist groß?«
Espen seufzte resigniert, als wäre er es leid, immer wieder zu sagen, was doch so einleuchtend war: »Die Barmherzigkeit. Zu teilen und seinem Nächsten zu helfen. Die Bibel handelt beinahe ausschließlich davon. In Wirklichkeit muss man verdammt suchen, um darin etwas zu Themen wie Sex vor der Ehe, Abtreibung, Homosexualität oder Rederecht für Frauen zu finden. Aber natürlich fällt es diesen Pharisäern leichter, lauthals über die Nebensätze der Bibel zu dozieren, als das Große zu tun und zu verkünden, was die Bibel mit allem Nachdruck festhält: dass man nämlich die Hälfte von all seinem Besitz demjenigen geben soll, der nichts hat. Die Menschen sterben jeden Tag zu Tausenden, ohne das Wort Gottes gehört zu haben, weil sich diese vermeintlichen Christen an ihr irdisches Gut klammern. Ich gebe ihnen eine Chance, sich darüber Gedanken zu machen.«
Der Polizist nickte.
Espen Kaspersen wurde stutzig. »Woher wissen Sie überhaupt, dass ich keine Drogen nehme?«
»Weil ich Sie vor ein paar Tagen in der Gøteborggata gesehen habe. Sie haben gebettelt, und ich bin gemeinsam mit einem jungen Mann an Ihnen vorbeigelaufen, der Ihnen eine Münze gegeben hat. Sie haben sie genommen und ihm
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