Der Erl�ser
sie jemand anders überlassen.«
»Das macht doch nichts.«
»Da hätten Sie ohnehin allein sitzen müssen, ich muss backstage arbeiten.«
»Dann ist es doch sowieso egal.«
»Nein!« Sie lachte. »Ich will, dass Sie da sind.«
Sie nahm seinen Arm, und Harry beobachtete, wie ihre kleine Hand seine große streichelte und drückte. Es war so still, dass er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte wie einen Wasserfall.
»Ich habe auf dem Weg hierher eine Sternschnuppe gesehen«, sagte Harry. »Ist das nicht seltsam? Dass der Untergang eines Planeten Glück bedeuten soll?«
Martine nickte stumm. Dann stand sie auf, ohne Harrys Hand loszulassen, ging um den Tisch herum, setzte sich rittlings auf seinen Schoß und legte ihre Hände in seinen Nacken.
»Martine «, begann er.
»Psst. « Sie legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen.
Und ohne den Finger wegzunehmen, beugte sie sich vor und drückte ihre Lippen weich auf seine.
Harry schloss die Augen und tat weiter nichts. Spürte sein eigenes Herz schwer und süß schlagen, rührte sich nicht. Dachte sich, dass er warten wollte, bis ihr Herz im gleichen Takt wie seins schlug, wusste aber eigentlich nur eines: dass er warten musste. Dann spürte er, wie sich ihre Lippen trennten. Automatisch öffnete er den Mund und schob seine Zunge nach vorne an die Zähne, um die ihre in Empfang zu nehmen. Ihr Finger hatte einen erregend bitteren Geschmack nach Seife und Kaffee, der ihm auf der Zungenspitze brannte. Ihre Hand legte sich fester um seinen Nacken.
Dann spürte er ihre Zunge. Sie presste sich gegen den Finger, so dass er sie auf beiden Seiten spürte, und er dachte, dass sie nun eine gespaltene Zunge hatte, wie eine Schlange. Dass sie einander zwei halbe Küsse gaben.
Plötzlich ließ sie ihn los.
»Lass die Augen zu«, flüsterte sie nah an seinem Ohr.
Harry legte den Kopf nach hinten und widerstand der Versuchung, seine Hände um ihre Hüften zu legen. Sekunden vergingen. Als sich ihr Hemd öffnete und zu Boden glitt, spürte er die weiche Baumwolle über seinen Handrücken streichen.
»Jetzt kannst du die Augen aufmachen«, flüsterte sie.
Harry tat, was sie verlangte. Und blieb sitzen und sah sie an. Ihr Gesicht zeigte eine Mischung aus Angst und Erwartung.
»Wie schön du bist«, sagte er mit einer Stimme, die seltsam und belegt klang. Ängstlich.
Er sah sie schlucken. Dann breitete sich ein triumphierendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
»Heb die Arme«, kommandierte sie. Sie griff den unteren Saum seines T-Shirts und zog es ihm über den Kopf.
»Und du bist hässlich«, sagte sie. »Schön und hässlich.«
Harry spürte ein berauschendes Stechen, als sie ihm in die Brustwarzebiss. Eine ihrer Hände hatte sich nach unten zwischen seine Beine geschoben. Er spürte ihren hastigen Atem an seinem Hals, während sich die andere Hand auf seine Gürtelschnalle legte. Er legte ihr den Arm um den Rücken. Und in diesem Moment spürte er es. Das unfreiwillige Zittern ihrer Muskeln, die Angespanntheit, die sie angestrengt zu verbergen versucht hatte. Sie hatte Angst.
»Warte, Martine«, flüsterte Harry. Ihre Hand erstarrte.
Harry schob seinen Mund ganz dicht an ihr Ohr: »Willst du das? Weißt du, worauf du dich da einlässt?«
Er spürte ihren feuchten, schnellen Atem auf der Haut, als sie schluchzte: »Nein, und du? «
»Nein. Vielleicht sollten wir dann «
Sie stand auf. Sah ihn verletzt und verzweifelt an.
»Aber ich … ich spüre doch, dass du «
»Ja, doch«, sagte Harry und streichelte ihr die Haare. »Ich will dich. Ich will dich, seit ich dich das erste Mal gesehen habe.«
»Wirklich?«, fragte sie, nahm seine Hand und legte sie auf ihre rote, warme Wange.
Harry lächelte. »Auf jeden Fall seit dem zweiten Mal. « »Dem zweiten Mal? «
»Okay, dann dem dritten. Jede gute Musik braucht ein bisschen Zeit.«
»Und ich bin gute Musik?«
»Ich hab gelogen, es war schon beim ersten Mal. Aber das heißt nicht, dass man mich leicht um den Finger wickeln kann, okay?«
Martine lächelte. Dann begann sie zu lachen. Und Harry auch. Sie beugte sich vor und legte ihre Stirn auf Harrys Brust. Lachte hicksend, während sie ihm auf die Schultern klopfte, und erst als Harry die Tränen über seinen Bauch rinnen spürte, begriff er, dass sie weinte.
*
Jon wachte auf, weil er fror. Glaubte er zumindest. Roberts Wohnung war ganz dunkel und lieferte ihm keine andere Erklärung. Doch dann spulte sein Gehirn die letzten Wahrnehmungen noch einmal
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