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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesb�
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Bleistiftbuchstaben geschriebener Brief.
    »Im Schnitt stirbt pro Woche einer unserer Gäste. Vier sind ganz normal. Wir halten immer am ersten Mittwoch des Monats eine Andacht. War das jemand, den Sie ?«
    Harry schüttelte den Kopf. »Mein geliebter Odd«, begann der Brief. Keine Blumen.
    »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, fragte sie.
    Sie hatte bestimmt nicht mehrere Stimmen auf Lager, sondern nur diese tiefe, angenehme Tonlage.
    »Per Holmen «, begann er, wusste aber nicht recht, wie er fortfahren sollte.
    »Der arme Per, ja. Wir werden im Januar eine Andacht für ihn halten.«
    Harry nickte. »Am ersten Mittwoch.«
    »Genau, und Sie sind herzlich willkommen, Bruder.«
    Sie sprach dieses Wort mit natürlicher Leichtigkeit aus, »Bruder«, wie einen selbstverständlichen und daher kaum noch betonten Abschluss ihres Satzes. Einen Augenblick lang hätte ihr Harry fast geglaubt.
    »Ich bin Polizist«, sagte er.
    Ihr Größenunterschied war so krass, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihn genauer zu betrachten.
    »Ich habe Sie vielleicht schon einmal gesehen, aber das muss lange her sein.«
    Harry nickte. »Vielleicht. Ich war schon mal hier, aber da habe ich Sie nicht gesehen.«
    »Ich bin nur Teilzeit hier. Sonst arbeite ich im Hauptquartier der Heilsarmee. Und Sie sind im Drogendezernat?«
    Harry schüttelte den Kopf. »Morddezernat.«
    »Mord? Aber Per wurde doch nicht «
    »Können wir uns einen Moment setzen?«
    Sie sah sich zögernd um.
    »Viel zu tun?«
    »Im Gegenteil. Es ist heute ungewöhnlich ruhig. An einem normalen Tag servieren wir hier 1800 Schnitten. Aber heute wird die Sozialhilfe ausgezahlt.«
    Sie machte einem der Jungen hinter dem Tresen ein Zeichen, und er gab ihr zu verstehen, dass er kurz für sie einspringen konnte. Dabei erfuhr Harry auch ihren Namen: Martine. Der Kopf des Mannes mit dem Zigarettenpapier war noch tiefer auf die Tischplatte gesunken.
    »Es gibt ein paar Sachen, die irgendwie nicht zueinanderpassen «, sagte Harry, als sie Platz genommen hatten. »Was für ein Mensch war er?«
    »Das ist schwer zu sagen.« Sie seufzte, als sie Harrys fragenden Blick sah. »Wenn man schon so viele Jahre an der Nadel hängt wie Per , ist das Hirn derart kaputt, dass man die eigentliche Persönlichkeit kaum mehr erkennen kann. Die Sucht dominiert einfach alles.«
    »Das verstehe ich, aber ich meine … für Menschen, die ihn gut kannten «
    »Tut mir leid. Sie können Pers Vater fragen, was von der Persönlichkeit seines Sohnes noch zu erkennen war. Er war oft hier unten, um ihn zu holen. Irgendwann hat er es aufgegeben. Er meinte, Per habe angefangen, ihn zu Hause zu bedrohen, weil sie alle Wertsachen wegschlossen, wenn er kam. Er hat mich gebeten, auf den Jungen aufzupassen. Ich habe ihm gesagt, dass wir unser Bestes versuchen würden, aber dass wir auch keine Wunder versprechen könnten. Und wir haben es ja auch nicht geschafft «
    Harry sah sie an. Ihr Gesicht verriet nicht mehr als die gewohnte Resignation der Sozialarbeiterin.
    »Das muss doch die Hölle sein«, sagte Harry und kratzte sich am Bein.
    »Ja, man muss wohl selbst drogenabhängig sein, um das wirklich ganz zu verstehen.«
    »Die Eltern so eines Jungen zu sein, meinte ich. «
    Martine antwortete nicht. Ein Junge in einer zerrissenen Daunenjacke hatte am Nebentisch Platz genommen. Er öffnete eine durchsichtige Plastiktüte und schüttete einen Haufen Tabak auf den Tisch. Das mussten Hunderte von Kippen gewesen sein. Die Krümel rieselten über das Zigarettenpapier und die schwarzen Finger des anderen Mannes.
    »Frohe Weihnachten«, murmelte der Junge und verließ mit dem greisenhaften Gang eines Junkies den Tisch.
    »Was passt nicht zusammen?«, fragte Martine.
    »Die Blutprobe hat ergeben, dass er beinahe nüchtern war«, sagte Harry.
    »Ja und?«
    Harry betrachtete den Mann am Nebentisch. Verzweifelt versuchte er, das Zigarettenpapier zusammenzudrehen, aber seine Finger wollten ihm nicht gehorchen. Eine Träne rann ihm über die braune Wange.
    »Ich kenne mich ein bisschen damit aus, wie es ist, high zu sein«, sagte Harry. »Wissen Sie, ob er jemand Geld schuldete?«
    »Nein.« Ihre Antwort kam schnell. So schnell, dass Harry auch schon die Antwort auf seine nächste Frage zu kennen glaubte. »Sie könnten sich nicht vielleicht ein bisschen «
    »Nein«, unterbrach sie ihn. »Ich kann mich nicht umhören. Wissen Sie, das sind hier Menschen, um die sich sonst keiner kümmert, und ich bin hier, um ihnen zu

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