Der Erl�ser
folgte, glaubte sie, durch verschiedene Schichten von kaltem und warmem Wasser zu sinken.
»Lassen Sie uns das alles vergessen«, bat sie, nachdem der Kellner gekommen war und sich die Karte geschnappt hatte, die sie ihm entgegenstreckte. »Das ist doch nicht wichtig. Für keinen von uns. Gehen Sie noch in den Frognerpark mit mir? «
»Ich...«
»Bitte?!«
Er sah sie überrascht an.
Aber – tat er das wirklich?
Wie konnte dieser Blick – der doch alles sah – überrascht sein?
Ragnhild Gilstrup starrte aus ihrem Fenster am Holmenkollen auf das dunkle Viereck weit unten. Den Frognerpark. Dort hatte dieser Wahnsinn begonnen.
*
Es war nach Mitternacht, der Suppenbus stand in der Garage, und Martine fühlte sich angenehm müde, aber auch gesegnet. Sie stand in der engen, dunklen Heimdalsgate vor dem Obdachlosenheimund wartete auf Rikard, der das Auto holen wollte, als sie hinter sich plötzlich ein Knirschen im Schnee hörte.
»Hallo.«
Sie drehte sich um. Ihr Herz stockte, als sie die Silhouette des großen Mannes vor dem Licht der Straßenlaterne sah.
»Erkennen Sie mich nicht?«
Ihr Herz machte einen Schlag. Dann noch einen. Dann einen dritten und vierten. Sie hatte die Stimme wiedererkannt.
»Was tun Sie hier?«, fragte sie und hoffte, dass ihre Stimme nicht verriet, wie viel Angst sie gehabt hatte.
»Ich habe erfahren, dass Sie heute Abend im Bus gearbeitet haben und dass der hier gegen Mitternacht abgestellt wird. In unserem Fall ist so einiges in Bewegung geraten, wie es so schön heißt. Und ich habe mir ein paar Gedanken gemacht.« Er trat vor, das Licht fiel nun auf sein Gesicht. Es war härter und älter, als sie es in Erinnerung hatte. Seltsam, wie viel man im Laufe eines Tages vergessen konnte. »Und ich habe ein paar Fragen.«
»Die nicht warten können?«, fragte sie. Als sie lächelte, sah sie, dass sich das Gesicht des Polizisten gleich merklich entspannte. »Warten Sie auf jemand?«, fragte Harry.
»Ja, Rikard soll mich nach Hause fahren.«
Sie warf einen Blick auf die Tasche, die der Polizist über der Schulter trug. Auf der Seite hatte mal »JETTE« gestanden, aber die Tasche sah derart alt und abgenutzt aus, dass es sich unmöglich um die aktuelle Retrovariante handeln konnte.
»Sie sollten sich ein paar neue Einlegesohlen für die Turnschuhe da drin kaufen«, sagte sie und zeigte auf die Tasche.
Er sah sie verblüfft an.
»Man muss nicht Jean-Baptiste Grenouille sein, um die zu riechen«, sagte sie.
»Patrick Süskind«, erwiderte er. » Das Parfum .«
»Ein Polizist, der liest«, entgegnete sie.
»Eine Soldatin der Heilsarmee, die Mordgeschichten kennt«, konterte er. »Womit wir, wie ich fürchte, wieder bei meinem Anliegen wären.«
Ein Saab 900 näherte sich und hielt vor ihnen. Das Fenster glitt lautlos herunter.
»Wollen wir fahren, Martine?«
»Einen Augenblick, Rikard. « Sie drehte sich zu Harry um. »Wohin müssen Sie?«
»Bislett. Aber ich ziehe es vor «
»Rikard, geht es in Ordnung, wenn Harry Hole bis Bislett mitfährt? Da wohnst du doch auch.«
Rikard starrte ins Dunkel, ehe er mechanisch antwortete: »Natürlich. «
»Kommen Sie«, sagte Martine und streckte Harry ihren Arm entgegen.
Er sah sie überrascht an.
»Glatte Schuhe«, flüsterte sie und nahm seine Hand. Sie spürte, dass sich seine warme, trockene Hand fest um die ihre schloss, als fürchtete er, sie könnte gleich fallen.
Rikard fuhr vorsichtig und blickte ständig in die verschiedenen Rückspiegel, als fürchte er einen Angriff aus dem Hinterhalt.
»Also?«, fragte Martine, die auf dem Beifahrersitz saß.
Harry räusperte sich. »Auf Jon Karlsen ist heute ein Mordanschlag verübt worden.«
»Was?«, platzte Martine heraus.
Harry fing Rikards Blick im Rückspiegel auf.
»Wussten Sie das schon?«, fragte Harry.
»Nein«, antwortete Rikard.
»Wer «, begann Martine.
»Wir wissen es nicht«, sagte Harry.
»Aber Robert und jetzt auch noch Jon. Hat das was mit der Familie Karlsen zu tun? «
»Ich glaube, sie hatten es die ganze Zeit über nur auf einen von beiden abgesehen«, sagte Harry.
»Wie meinen Sie das? «
»Der Täter hat seine Rückreise ausgesetzt. Ich glaube, er hat gemerkt, dass er den falschen Mann erschossen hat. Nicht Robert sollte sterben.«
»Nicht Ro–«
»Deshalb wollte ich mit Ihnen reden. Ich glaube, Sie könnten mit Ihrer Aussage vielleicht meine Theorie stützen.«
»Welche Theorie?«
»Dass Robert starb, weil er unglücklicherweise Jons
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