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Der Eroberer

Der Eroberer

Titel: Der Eroberer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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Besessene sah in die Richtung, in die der Mann deutete, und schien im selben Moment alles um sich herum zu vergessen. Er machte sich auf den Weg.
    In der engen Straße war der Geruch nach frisch geschnittenem Holz noch stärker, der Gesang von Säge und Hobel noch schriller. Der Besessene ging bis zu den Knöcheln in Sägespänen. An den Hauswänden lehnten Bretter in allen Größen und Breiten. Nur den Eingang hatte man jeweils freigelassen. Viele der Zimmerleute hatten ihre Hobelbänke draußen vor dem Haus stehen. Sie schnitzten, drechselten und sägten und machten alles, was man mit Holz nur machen kann. Sie sahen von ihrer Arbeit hoch, als der Besessene vorbeiging und schließlich vor einem alten Mann in einer langen ledernen Schürze stehenblieb. Der Mann hatte graue Haare und war kurzsichtig. Er sah mit zusammengekniffenen Augen zu dem Besessenen auf. »Was willst du?«
    »Ich suche einen Zimmermann namens Joseph. Seine Frau heißt Maria.«
    Der alte Mann deutete mit seinem Stemmeisen. »Hier – zwei Häuser weiter, auf der anderen Seite.«

    An dem Haus, zu dem der Besessene gekommen war, lehnten nur ein paar Bretter. Die Hobelbank vor der Tür war alt und krumm, und der Mann, der darüber gebeugt stand und einen Stuhl reparierte, sah jämmerlich aus. Er richtete sich auf, als ihm der Besessene eine Hand auf die Schulter legte. Sein Gesicht war von Elend und Unglück gezeichnet. Seine Augen waren müde und sein schütterer Bart zu früh ergraut. Er hüstelte. »Bist du Joseph?« fragte der Besessene. »Ich habe kein Geld.«
    »Ich will nichts – ich möchte dich bloß etwas fragen.«
»Ja, ich bin Joseph. Was willst du wissen?«
»Hast du einen Sohn?«
»Mehrere. Und auch Töchter.«
    »Heißt deine Frau Maria? Bist du aus Davids Geschlecht?«
    Der Mann machte eine ungeduldige Handbewegung. »Ja – und viel hat es mir genützt …«
    »Ich möchte einen deiner Söhne kennenlernen. Nämlich Jesus. Sag mir, wo er ist.«
    »Dieser Tunichtgut. Was hat er denn jetzt schon wieder an
gestellt?«
»Wo ist Jesus?«
Joseph sah den Besessenen mit abschätzendem Blick an.
»Bist du vielleicht ein Prophet? Bist du gekommen, um meinen
Sohn Jesus zu heilen?«
»Ich kann die Zukunft voraussagen.«
    Joseph stieß einen tiefen Seufzer aus. »Dann komm mit und sieh ihn dir an.«
    Er führte den Besessenen durch einen Torbogen in den Hof, der voll Gerümpel war. Sie gingen durch die Hintertür in das Haus. Im ersten Raum stand eine Frau vor einer großen Feuerstelle aus Lehm. Sie war groß und unansehnlich dick. Ihr langes schwarzes Haar war ungekämmt und fettig und hing ihr über die Augen, in denen immer noch die Hitze der Lust glühte. Sie musterte den Besessenen von oben bis unten.
    »Wir haben für Bettler nichts zu essen«, murrte sie. »Ißt er ja schon das Doppelte.« Sie deutete mit einem Holzlöffel auf eine kleine Gestalt, die in einer dunklen Ecke hockte.
    »Er sucht unseren Jesus«, sagte Joseph zu der Frau. »Vielleicht ist er gekommen, um unsere Bürde zu erleichtern.« Die Frau sah den Besessenen mißtrauisch an und zuckte mit den Schultern. Sie leckte sich mit einer fleischigen Zunge über die roten Lippen. »Jesus!« Die Gestalt in der Ecke stand auf.
    »Das ist er«, sagte die Frau mit seltsam zufriedener Stimme.
    Der Besessene runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nein.«
    Die Gestalt war eine Mißgeburt. Ein Höcker auf dem Rücken und das linke Auge mit einer milchigen Haut überzogen. Ein leeres, blödes Gesicht und Speichel vor dem Mund.
    Kichernd kam er ein paar Schritte nach vorn gehüpft. »Jesus«, lallte er. »Jesus.«
    »Das ist das einzige Wort, das er herausbringt«, sagte die Frau abfällig. »Er war schon immer so. Von Geburt an.« »Gottes Wille«, sagte Joseph.
    »Was hat er denn?« Die Stimme des Besessenen hatte eine pathetische, verzweifelte Färbung.
    »Seit Geburt«, wiederholte die Frau und wandte sich wieder der Feuerstelle zu. »Du kannst ihn haben, wenn du ihn willst, Fremder. Drinnen und draußen verdorben wie ein fauliges Ei. Ich bin mit ihm schwanger gegangen, als mich meine Eltern an diese halbe Portion verheiratet haben.«
    »Du schamloses Weib! Ich –« Joseph brach ab, weil sie ihn
bloß ansah. Er wandte sich wieder an den Besessenen. »Was
willst du von unserem Sohn?«
»Ich möchte mit ihm reden. Ich …«
    »Er ist kein Orakel, und er hat keine Gesichter – wir haben es anfangs auch gehofft. Es gibt aber trotzdem immer noch Leute in Nazareth, die zu ihm kommen

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