Der Eroberer
zurück und setzte sich; alle Augen in der Synagoge waren auf ihn gerichtet.
V
Sie folgten ihm, wie er von Nazareth zum See Genezareth ging. Er war in ein weißes Leinengewand gekleidet, das sie ihm gegeben hatten, und obwohl sie sich einbildeten, von ihm geführt zu werden, trieben sie ihn vor sich her.
»Er ist der Heiland«, sagten sie zu denen, die fragten. Und schon erzählte man sich von seinen Wundern.
Als er die Kranken sah, tröstete er sie und tat für sie, was er konnte, denn es wurde von ihm erwartet. Für viele gab es keine Hilfe, aber andere, offensichtlich in psychosomatischen Stadien, sprachen darauf an. Sie glaubten mehr an seine heilende Kraft als an die verzehrende Kraft ihrer Krankheit. Also wurden sie gesund.
Als er nach Kapharnaum kam, folgten ihm mindestens fünfzig Menschen durch die Straßen der Stadt. Es war bereits bekannt, daß er irgendwie mit Johannes dem Täufer in Verbindung stand, der sich in Galiläa großer Verehrung erfreute und von vielen Pharisäern als echter Prophet erklärt worden war. Dieser Mann jedoch besaß größere Macht als Johannes. Er war nicht der Redner, der der Täufer war, aber er wirkte Wunder. Kapharnaum war eine blühende Stadt am Ufer des Sees Genezareth, deren Häuser durch große, blühende Gärten voneinander getrennt waren. Fischerboote waren an den weißen Kaimauern festgemacht und auch Handelsschiffe. Obwohl Hügel zu allen Seiten des Sees sanft auf das Wasser herunterrollten, war die Stadt auf flaches Land gebaut. Es war eine ruhige Stadt, und in ihr wohnten wie in fast allen Städten in Galiläa viele Christen. Griechische, römische und ägyptische Kaufleute durchstreiften Kapharnaums Straßen, und viele hatten die Stadt zu ihrem ständigen Wohnsitz gemacht. Es gab eine wohlhabende Mittelschicht von Kaufleuten, Handwerkern und Schiffseigentümern, wie auch Doktoren, Rechtskundige und Schriftgelehrte, denn Kapharnaum lag genau an den Grenzen der Provinzen von Galiläa, Trachonitien und Syrien und war somit ein nützlicher Knotenpunkt für Handel und Verkehr. Der seltsame, besessene Prophet in seinem wehenden weißen Leinengewand, gefolgt von der heterogenen Menge, die vornehmlich aus armem Volk bestand, aber auch ein paar Bessere aufzuweisen hatte, zog in Kapharnaum ein. Schnell hatte sich die Kunde verbreitet, daß er die Verhaftung Johannes des Täufers bereits angekündigt hatte, als dieser kurz darauf von Herodes in Peräa in Gefangenschaft genommen worden war. Er sprach seine Weissagungen nicht in vagen Worten aus, wie die anderen Propheten, sondern erzählte von konkreten Dingen, die sich in allernächster Zeit ereignen sollten.
Niemand kannte seinen Namen. Er war einfach der Prophet aus Nazareth oder der Nazarener. Einige sagten, er sei ein Verwandter, vielleicht sogar der Sohn eines Zimmermanns, aber das vielleicht, weil in der Schriftsprache die Worte für Sohn eines Zimmermanns und Heiland fast gleich aussahen. Es ging sogar das Gerücht, daß sein Name Jesus sei. Man hatte ihn sogar ein- oder zweimal angesprochen, aber er hatte nicht reagiert. Und bei der Frage, ob er Jesus sei, wich er aus oder schüttelte den Kopf.
Seine Predigten durchglühte nicht dasselbe Feuer wie die des Täufers. Dieser Mann sprach in milden Worten und lächelte oft. Er sprach auf seltsame Weise von Gott und schien, wie auch Johannes, viel von der Lebensweise der Essener zu halten, denn er war gegen die Anhäufung persönlichen Reichtums und sagte, daß man seinen Nächsten lieben solle wie sich selbst.
Aber auf seine Wunder waren sie bedacht, als man ihn zur
Synagoge von Kapharnaum führte. Kein Prophet vor ihm hatte die Siechen geheilt und die Nöte der Menschen wirklich verstanden. Seine Güte sprach das Volk an. Nicht so sehr seine Worte.
Zum erstenmal in seinem Leben hatte Karl Glogauer Karl Glogauer vergessen. Zum erstenmal in seinem Leben tat er, was er als Psychiater hatte tun wollen.
Aber es war nicht sein Leben. Er brachte dem Leben einen Mythos – und das eine Generation vor der Geburt dieses Mythos. Er schloß eine Art psychischen Kreislaufs. Er veränderte die Geschichte nicht, aber er gab ihr mehr Gehalt.
Der Gedanke, daß Jesus lediglich ein Mythos gewesen sein soll, war ihm unerträglich. In seiner Macht lag es, aus Jesus eine physische Realität zu machen und nicht bloß die Kreation eines Prozesses von Mythenbildungen.
Also predigte er in den Synagogen, und er sprach von einem freundlicheren Gott als dem Gott, den seine Zuhörer zu
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