Der Eroberer
einzelner dieser Fälle gleicht dem anderen.« »Darüber läßt sich streiten«, sagte ich.
Schmeling grinste. »Dabei habe ich gehört, daß sie sich für einen Individualisten halten.«
»Das bin ich … innerhalb gewisser Grenzen«, antwortete ich eine Spur zu hitzig.
»Sie sind individuell«, sagte er, lehnte sich zurück und streckte die Füße dem Kaminfeuer entgegen. Ich sah, daß ihm die Diskussion immer mehr Spaß machte. Er war offenbar jetzt schon davon überzeugt, mich festnageln zu können.
»Das sind Sie im wahrsten Sinne des Wortes«, betonte er.
»Gerade Ihr Unvermögen, sich einem anderen restlos verständ
lich zu machen, zeugt davon in besonders eindrücklicher Wei
se. Wieviel Zeit ist ein Elefant?«
»Wie bitte?«
»Können Sie darauf antworten?«
»Die Frage ist unsinnig.«
»Für Sie vielleicht. Aber nicht für diejenigen, die Zeit als Massenbegriff verstehen … und davon gibt es einige. Eine Frage wird von jedem einzelnen Menschen jeweils anders beantwortet. Viele weitere Beobachtungen unterstützen meine These. Manche Menschen assoziieren mit Sonntag eine bestimmte Farbe, während andere eine Raumvorstellung damit verknüpfen. Das geistige Auge sieht, das geistige Ohr hört, die geistige Nase riecht, der geistige Spürsinn ertastet, der geistige Gaumen schmeckt, und zwar bei jedem völlig unterschiedlich. Da, so meine ich, ist die Wirklichkeit zu suchen: in den geistigen Sinnen, da, wo wir Erfahrungen machen, die wir machen wollen, im Gegensatz zu denen, die man uns aufzwingt.« »Unser Gespräch führt zu nichts«, sagte ich. »Abstrakte Fragen über die menschliche Natur lassen nur abstrakte Antworten zu.«
»Stimmt.« Seine Augen triumphierten, als hätte er mir absichtlich ein Zugeständnis abgerungen. »Wenn aber eine konkrete Lösung auftaucht, erscheint das Problem gleichfalls konkret. Geben Sie mir recht?«
»Ja.«
»Nun, ich habe vor nicht allzu langer Zeit einen konkreten Beweis erhalten, daß jeder Mensch als Individuum existiert … absolut, unwiderrufbar. Die einwirkende Umwelt sowie seine Erbanlagen lassen diese Individualität nach außen hin verblassen. Sehen Sie den Unterschied? Der Mensch wird als vollkommenes Individuum geboren, doch die oberflächlichen Einflüsse zwingen ihn, seine Besonderheit aufzugeben. Verstehen Sie?«
»Sie behaupten also, daß die gesellschaftliche Prägung, die ich zu den Wesensmerkmalen einer Person zähle, nur oberflächlich bleibt. Ich glaube, ich kann Ihnen folgen. Als Beispiel würden Sie vermutlich den rigoros konformen Vorstädter anführen.«
»Ich könnte tragischere Beispiele nennen. Denken Sie nur an Deutschland während der dreißiger Jahre.« Er stockte und schien über seine Heimat zu grübeln, die er vor vielen Jahren verlassen hatte. »Die typisch deutsche Krankheit brach wieder vollends durch«, fuhr er nachdenklich fort. »Der Drang, sämtlichen Äußerungen menschlicher Existenz irgendwelche Muster und Verallgemeinerungen überzustülpen. Freud, der Hinterlistige, hat wohl in Deutschland die Sprache seiner Lehre entdeckt; eine Sprache mit so viel vagen Begriffen muß notgedrungen zu den vagen Denkschemata führen, die ich so verabscheue.«
Er zuckte die Achseln und nickte. »Der Vorstädter ist in der Tat ein gutes Beispiel.«
Er stand auf und straffte seinen großen, kräftigen Körper wie ein Schauspieler, der zum Monolog ansetzt. Aber statt zu sprechen, ließ er mich warten und stopfte seine Pfeife mit dem schrecklichen Kraut, das er aus einem Kästchen im Regal zupfte. Als er die Pfeife mit dem Metallschaft angesteckt hatte und eklig süßer Rauch die Luft verpestete, kehrte er zurück auf seinen Platz am Kamin.
»Schizophrene Psychopathen oder grundlos Aufsässige sind extreme Beispiele für Individuen, die die Unnatürlichkeit der Konformität spüren und gewaltsam darauf reagieren.« »Millionen von Vorstädtern können sich nicht irren«, sagte ich ironisch, worauf er mit der Pfeife zwischen den Zähnen grinste.
»Ein einzelner Psychopath kann sich auch nicht irren. In seiner eigenen, kleinen Welt ist er im Recht. Er hält all seine Entscheidungen für gerechtfertigt; denn er ist es, der wählt.« »Aber leider führt ein solches Verhalten geradewegs zur Anarchie«, sagte ich. »Wenn er nicht bis zu einem gewissen Maß konform geht, werden seine Handlungen die Rechte anderer durchkreuzen. Wenn er damit Erfolg hat, wird er das Chaos heraufbeschwören; wenn nicht, darf er seine Freiheit im Gefängnis ausleben.
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