Der Eroberer
So ist es doch.«
»In etwa haben Sie recht«, antwortete er nickend. »Aber wenn jeder den anderen als Individuum zu seinem Recht kommen ließe und die Tyrannei des Konformismus beseitigt wäre, so könnten wir vielleicht der Existenz zu größerer Würde verhelfen. Warum sollte es unter solchen Vorzeichen keine Kooperation unter den Menschen geben?«
»Wir nähern uns dem Bereich der Politik«, warnte ich lächelnd. »Beziehungsweise dem der Religion. In beiden Fällen müssen wir Beweise für unsere Argumente schuldig bleiben.« »Beide Bereiche üben jedenfalls eine große Anziehungskraft auf Psychopathen aus. Bedenken Sie nur, daß sowohl religiöse als auch politische Bewegungen bekanntermaßen die Neigung haben, in kleinste Gruppen zu zersplittern. Oft genug stehen am Ende ihre einzelnen Mitglieder isoliert da.«
»Zugegeben«, entgegnete ich. »Aber Sie sagten doch, einen konkreten Beweis dafür erhalten zu haben, daß alle Menschen ungleich sind.«
»So habe ich mich nicht ausgedrückt. Den Begriff der Gleichheit bringen Sie mit ins Spiel. Ich möchte es anders formulieren: Mir liegen Beweise vor, daß sich alle Menschen darin gleichen, eine jeweils unterschiedliche Existenz zu führen.« Er legte eine rhetorische Kunstpause ein. Ich bewunderte seine Haltung, seine sonore Stimme. »Eine Existenz, die ihre jeweils eigene physikalische We lt bewohnt.« »Ach, jetzt erzählen Sie mir aber nichts!«
»Zeit und Raum sind relativ. Der Raum-Zeit-Bezug eines Individuums ist relativ zu dem der anderen. Er ist nicht derselbe. Ich habe Beweise dafür, daß jeder Mensch sowohl in einem individuellen Raum-Zeit-Kontinuum existiert als auch in dem übergeordneten, das wir alle miteinander teilen. Warum vergeht wohl für manche eine Stunde schneller als für andere?« »Das hängt doch von seinem geistigen Zustand zur Zeit einer solchen Erfahrung ab.«
»Von seinem geistigen Zustand. Genau. Er bringt sein eigenes Zeitempfinden in Übereinstimmung mit der Zeit, die man ihm als die gültige vorschreibt.«
»Und wie können Sie diese Behauptung beweisen?« fragte ich, obwohl mich die Diskussion zu langweilen begann. »Nun, das will ich Ihnen sagen.« Er schaute auf die Uhr, rückte sich in seinem Sessel zurecht und hob an in der Art eines Geschichtenerzählers, wobei er jeden Satz sorgfältig formulierte. Auch ich machte es mir in meinem Sessel bequem. Ich hörte ihm gespannt zu, denn Schmeling war ein guter Unterhalter. Er brauchte nur ein aufmerksames Publikum, um sein Talent zu entfalten.
Vor ein paar Monaten (sagte er in seiner tiefen Stimme) verbrachte ich in meiner Arztpraxis in der Harley Street einen angenehm gemächlichen Tag damit, daß ich älteren Damen, die meine privaten Forschungen finanzieren, ein offenes Ohr schenkte und Aspirin verschrieb. Plötzlich stürzte meine betagte Sprechstundenhilfe ins Behandlungszimmer – eine für ihr Alter selten ansehnliche Person. Meine Patienten mögen keine
jungen Arzthelferinnen.
»Mrs. Thornton sitzt im Wartezimmer«, krächzte sie.
»Aber sie hat keinen Termin«, sagte ich irritiert. Frauen ihrer Sorte sind entweder hypochondrisch oder unheilbar. Darauf lege ich Wert, denn sie bescheren mir nur wenig Arbeit. Mrs. Thornton war sowohl das eine wie das andere – unheilbar hypochondrisch –, ansonsten aber eine liebenswürdige Frau mittleren Alters, sehr reich und erstaunlich lebhaft, wenn sie sich gerade keine Migräneanfälle einbildete. Ja, sie war sehr reich, und außerdem mochte ich sie. Ohne lange zu überlegen, sagte ich deshalb meiner Sprechstundenhilfe, sie möge die Gute hereinbitten, sobald ich Zeit für sie hätte.
In einer Praxis wie der meinen darf man Überraschungsbesuche nicht gleich empfangen. Wenn der Arzt jedem Hinz und Kunz sofort die Tür aufmacht, ist sein guter Ruf bald hin. Schließlich wurde Mrs. Thornton samt kostbarem Pelz und einer Duftwolke aus exklusivem Parfüm ins Behandlungszimmer geführt. Ihr Gesicht war raffiniert geschminkt, das getönte, graue Haar wunderbar zurechtgemacht. Aber an dem leicht verschmierten Lidstrich ihres rechten Auges fiel mir sofort auf, daß mit ihr etwas nicht in Ordnung zu sein schien: Die ansonsten stets so beherrschte Mrs. Thornton hatte offenbar in aller Öffentlichkeit geweint.
Ich stand auf und hieß sie Platz zu nehmen. Sie ließ sich auf den äußersten Rand des Sessels nieder.
»Es scheint Ihnen nicht besonders gutzugehen, Mrs. Thornton«, sagte ich besorgt in der Annahme, daß ihr eine
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