Der Eroberer
sei.
»In seinem Arbeitszimmer«, antwortete das Mädchen mit einem besorgten Seitenblick auf mich.
»Würden Sie ihm sagen, daß ich Doktor Schmeling mitgebracht habe, und daß wir ihn im Wohnzimmer erwarten?« Wir gingen in ein großes, helles Zimmer, eingerichtet in viktorianischem Stil. Mrs. Thornton steuerte gleich auf einen schweren Schreibtisch zu, der in eine Cocktailbar umgerüstet worden war, und bot mir einen Drink an. Ich ließ mir einen trockenen Sherry einschenken und nippte an meinem Glas, während wir auf Nicholas Davenport warteten. Mrs. Thornton ging nervös im Zimmer auf und ab, setzte sich aber dann auf die Armlehne eines Sessels.
Nicholas trat ein – blaß, entnervt, mürrisch. Er hatte schwarzes Haar und sah leicht verwildert aus. Wir wurden einander vorgestellt. Er schüttelte meine Hand etwas zu heftig, ging an die Hausbar und schenkte sich einen Drink ein. Ich hatte erwartet, daß er ärztliche Hilfe ausschlagen würde, aber statt dessen wandte er mir seinen trotzigen Blick zu und sagte: »Ich hoffe sehr, Sie wissen Rat, Herr Doktor.« Sein Trotz schien eher gegen die Welt im allgemeinen gerichtet zu sein als eine bestimmte Person.
»Das wird sich zeigen.« Ich musterte ihn vorsichtig und fragte mich, wie ich auf ihn wirken mochte. »Zuerst müssen Sie
mir von Ihren Schwierigkeiten erzählen.«
»Schwierigkeiten«, wiederholte er und stellte sich in theatralischer Pose an den Vorhang.
Ich sah in freudiger Erwartung einem spannenden Drama entgegen. Zu diesem Zeitpunkt unterschätzte ich noch den jungen Mann. Er war, wie ich erfahren sollte, ein großes Schauspielertalent – Sie wissen, wie ich das meine –, das jedoch aus irgendwelchen Gründen seinen Text hoffnungslos durcheinanderbrachte, seine Stichworte vergessen hatte. Vielleicht versuchte er auch bloß, seinen eigenen Text auf ein unpassendes Stück zu übertragen. Dieser Verdacht meldete sich bei mir, gleich nachdem Mrs. Thornton taktvollerweise das Zimmer verlassen hatte. Wir standen uns, mit Drinks bewaffnet, wie zwei Duellanten gegenüber, zum Schuß bereit. »Doktor Schmeling, Sie sind, wenn ich richtig informiert bin, kein Psychologe.«
»Das stimmt. Ich bin praktischer Arzt, habe aber einen privaten Hang zur Psychologie. Sollten Sie jedoch lieber einen Spezialisten konsultieren …«
»Nein, nein. Verzeihen Sie, ich befürchte nur, daß ein Mann, der mit psychischen Störungen nicht vertraut ist, meine Probleme als Unsinn abtun könnte.«
Mein Interesse war geweckt. Ich schüttelte den Kopf. »Das wird nicht passieren«, sagte ich. »Wenn ich mich aber in ihrem Fall als unkompetent erweise, muß ich Ihnen raten, einen Spezialisten aufzusuchen.«
»Einverstanden«, antwortete Davenport. »Nun, ich leide an Illusionen.«
Ich war fast geneigt, eine philosophische Abhandlung über die Bedeutung dieses Wortes zu führen, fragte aber statt dessen mit erstaunter Miene: »Von welchen Illusionen reden Sie, Mr. Davenport?«
»Von ganz unterschiedlichen. Von der Illusion der körperlichen Entrückung zum Beispiel, wobei der Geist auf den Körper herabblickt und ihn mit klinischer Genauigkeit beobachtet. Oder von der Raumillusion, die mir den Eindruck vermittelt, als sei ich ein winziger Punkt im unendlichen Universum und doch wiederum so groß, daß der Kosmos vergleichsweise kümmerlich klein wird. Außerdem bilde ich mir ein, Stimmen zu hören, die einen Satz von sich geben, den ich Tage später tatsächlich zu Ohren bekomme oder Tage zuvor hätte hören müssen. Manchmal habe ich die Vorstellung, einen Ort zu kennen, obwohl ich vorher nie dort gewesen bin … Ich glaube, das nennt man ein déjà-vu Erlebnis. Auf der anderen Seite kommen mir manche Orte, die ich wie dieses Haus seit Jahren kenne, plötzlich völlig fremd vor, so als würde ich sie zum ersten Mal sehen. Das sind nur ein paar der Illusionen, von denen ich rede, Herr Doktor. Nur ein paar …«
Ich sah mein Gegenüber mit nachdenklich gerunzelter Stirn an. Alle Illusionen, die er beschrieben hatte, waren im Grunde von ein und derselben Art. Wir nennen sie »hypnagogische Bilder«, Bilder, die im Halbschlaf oder in Tagträumen auftauchen. Aus der Literatur weiß ich, daß diese Vorstellungen auch durch Meskalin oder ähnliche Drogen hervorgerufen werden können.
»Wir alle haben von Zeit zu Zeit diese Illusionen«, sagte ich zögernd, enttäuscht darüber, daß sein Problem ganz und gar nicht ungewöhnlich war. »Auch ich erfahre sie manchmal.« »Tja«,
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