Der erotische Fremde
los?"
„Anscheinend hält der Zug, Monsieur - und zwar vor Valence." „Aber ... das darf doch nicht wahr sein! Jemand hat die Notbremse gezogen! Wo ... Entschuldigen Sie mich, Madame, aber ich muss ..."
„Natürlich, Monsieur."
Marthe brachte die Aperitifs und füllte das Glas von Henri Saint Julien nach. Er prostete ihr und Mariel und Haroun zu.
„Und jetzt", sagte er, nachdem er einen kräftigen Schluck ge nommen hatte, „jetzt erzählen Sie mir davon, wie es ist, heutzutage jung zu sein. Es interessiert mich sehr, warum junge Leute wie Sie solche Kleidung tragen und sich die Haut durchbohren lassen. Können Sie mir zum Beispiel erklären, weshalb Sie Ihr wundervolles Haar in solch eine Farbe gefärbt haben, Madame?"
„Für mich ist das nur Verkleidung, Monsieur Saint Julien. Wir sind nämlich auf der Flucht vor zwei sehr gefährlichen Männern", begann Mariel.
Harouns Erzähltalent war offenbar ansteckend.
9. KAPITEL
„Oder hier noch ein Beispiel", sagte Haroun. Inzwischen war eine halbe Stunde vergangen. „Die Schwimmbäder. Die ganze Welt weiß, dass in Bagestan die schlimmste Dürreperiode seit Jahren herrscht. Kinder sterben. Aber wer weiß, oder wagt zu sagen, dass Ghasib, um die Investoren aus dem Ausland bei der Stange zu halten, weiterhin erlaubt, dass die Swimmingpools für die Touristen mit Trinkwasser gefüllt werden? Kinder sterben, damit die Touristen in Trinkwasser baden können."
Sein Publikum, bestehend aus Henri Saint Julien, Marthe, der Kellnerin, und Mariel, lauschte gespannt. Er hatte sie alle davon überzeugt, dass er einer Bewegung angehörte, die den Diktator Ghasib vertreiben wollte. Das Bistro füllte sich langsam mit Gästen, aber Marthe verbrachte jede Minute, die sie erübrigen konnte, an ihrem Tisch, um atemlos zuzuhören.
„Gestern habe ich etwas darüber in der Zeitung gelesen", rief sie. „Einen Augenblick!" Sie entschuldigte sich, um an einem der Nachbartische das Essen zu servieren. Als sie zurückkehrte, hatte sie eine Zeitschrift in der Hand.
„Schauen Sie!" Sie las eine Schlagzeile vor. „,Das Monster, das sein eigenes Volk verhungern lässt'.
Dann gab es noch einen kleineren Artikel unter der Überschrift ,Wo ist unser Sultan?'"
„Und das sind Sie?" fragte Monsieur Saint Julien. „Sind Sie der Mann, nach dem sie suchen?"
Harry hob abwehrend die Hände. „Ich nicht, Monsieur. So Allah es will, werde ich niemals Sultan.
Jemand anders ist zum Nachfolger meines Großvaters ernannt worden. Ich arbeite nur mit daran, ihn auf den Thron zu bringen. Nein, so ein Leben voller Zwänge ist nichts für mich."
„Natürlic h nicht. Natürlich nicht", stimmte der alte Herr zu.
Das köstliche Mahl war viel zu rasch beendet.
„Wir müssen jetzt leider gehen", sagte Harry.
Sie bedankten sich noch einmal und standen zögernd auf.
„Ich danke Ihnen, dass Sie mir Ihre Geschichte erzählt haben", erwiderte Henri Saint Julien mit einer kleinen Verbeugung. „Es war sehr unterhaltsam und interessant. Ich wünsche Ihnen beiden Glück, und ich hoffe, bald in der Zeitung lesen zu können, dass Sie erfolgreich waren. Falls Sie jemals wieder in diesen Teil der Welt kommen ..."
Harry erwiderte die Verbeugung. Er wirkte dabei sehr hoheitsvoll, trotz des Piercings an seiner Augenbraue. „Vielleicht werden Sie uns eines Tages in Bagestan besuchen und uns gestatten, Ihre Großzügigkeit zu erwidern."
Er wandte sich an die Kellnerin. „Und Sie natürlich auch, Ma dame." Er schob Monsieur Saint Juliens Karte in die Tasche, ebenso die Karte des Bistros, auf die Marthe ihren Namen geschrieben hatte, und nahm die Tüte mit Proviant, die Marthe rasch noch für sie gepackt hatte.
„Oh, wie aufregend das wäre!" rief sie. „Viel Glück und keine Sorge, Ihr Geheimnis ist bei Monsieur und mir gut aufgehoben."
Sie winkten beide, als Harry und Mariel das Bistro verließen.
Dann setzte Monsieur sich wieder an seinen Tisch.
Marthe begann, den Tisch abzuräumen. „Möchten Sie noch einen Kaffee?" Sie seufzte dramatisch.
„Was für eine romantische Geschichte, Monsieur! Unglaublich, dass so ein Mann ausgerechnet hier auftaucht! Glauben Sie, seine Hoffnungen werden sich erfüllen?"
„Ja bitte, einen Kaffee, Marthe. Was sind wir doch für Narren, wir beide. Aber amüsant war es jedenfalls, nicht wahr?"
„Warum fütterst du so nette Leute mit so abstrusen Geschichten?" fragte Mariel, als sie und Harry die Straße hinabgingen.
„Warum nicht?"
„Du hast gestern diese
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