Der erotische Fremde
Kaffee trinken", bat Mariel, als er auflegte.
Sie hatten auf den Straßen noch eine Hand voll Münzen gefunden, so dass es jetzt wohl für eine Tasse reichen würde. Sicher wäre es vernünftiger, das Geld zu sparen, aber sie konnte den Düften, die von der Küche herüberwehten, einfach nicht widerstehen. Sie musste etwas zu sich nehmen.
„Na schön." Harry blickte auf die Schiefertafel, wo die Preisliste aufgemalt war, und griff in die Hosentasche.
Es fehlten zehn Centimes.
Mariel stöhnte auf. „Oh, nein! Zähl noch einmal nach", flehte sie.
Doch Harry lehnte sich über den Tresen und winkte die Kellne rin mit einer unwiderstehlich souveränen Geste herbei.
„Monsieur?"
„Es tut mir Leid, Sie damit behelligen zu müssen, Madame, aber wir brauchen Ihre Hilfe. Wir sin d bis auf die Kleider ausgeraubt worden", erklärte er. „Auf der Straße haben wir Münzen aufgelesen wie Bettler, aber es fehlen uns immer noch zehn Centimes für eine Tasse Kaffee. Meine Freundin ist sehr hungrig. Würden Sie so gut sein, uns eine Tasse Kaffee zehn Centimes billiger zu geben?"
Die Kellnerin schnalzte mit der Zunge. „Nichts da", sagte sie lässig und winkte ab, als er ihr die Münzen darbot.
Niedergeschmettert wollte Mariel zum Ausgang gehen.
„Setzen Sie sich", fuhr die Kellnerin fort und wies mit dem Kopf zu einem der Tische. Dann stellte sie ein Tablett mit zwei Tassen auf den Tresen.
Sie setzten sich.
„Du hast die Menschen im Griff, was?" murmelte Mariel.
Harry hob die Brauen und sagte nichts. Die Kellnerin kam und brachte ihnen zwei Tassen Kaffee und ein Tellerchen mit gefüllten Keksen. Sie bedankten sich. Mariel vergaß, was sie sagen wollte, griff gierig nach einem Keks und schob dann Harry den Teller zu.
„Iss du sie", sagte er.
„Aber du hast doch auch Hunger!"
„Das ist einer der Vorteile, wenn man jedes Jahr dreißig Tage fastet. Man lernt, einen langen Zeitraum ohne Nahrung auszukommen", erwiderte er. „Es macht mir nichts aus."
„Aber während des Ramadan wird doch nur bis Sonnenuntergang gefastet und dann geschlemmt", entgegnete sie. „Und das hier ist vielleicht alles, was wir heute noch in den Magen bekommen."
Harry lächelte. „Niemand schlemmt im Ramadan. Wir essen ganz spärlich."
„Ich dachte, jede Nacht wird gefeiert." Mariel aß rasch noch zwei Kekse. Jetzt waren noch drei übrig.
„Eid ul Für findet nur am Ende des Fastenmonats statt."
„Wie auch immer, jetzt ist nicht Ramadan, und du sollst deinen Anteil haben."
„Das reicht ja nicht einmal, um einen Vogel satt zu machen. Iss ruhig auf", sagte er lächelnd, und sie konnte nicht länger widerstehen.
„Marthe."
Sie drehten sich um, als der weißhaarige Herr nach der Kellne rin rief.
„Diese jungen Leute sollen zum Abendessen meine Gäste sein." Er nickte Mariel und Harry zu, stand auf und winkte sie zu seinem Tisch herüber. „Bitte erweisen Sie einem alten Mann die Ehre."
„Das ist sehr freundlich, Monsieur", erwiderte Harry und verbeugte sich leicht. „Aber wir möchten nicht stören."
„Das tun Sie nicht. Ich habe gern etwas Gesellschaft. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Henri Saint Julien."
„Madame, wie ich Ihren Kollegen schon erklärt habe, sind das Mädchen mit dem Schmetterling auf dem Bauch und ihr Partner in Lyon abgeführt worden. Wenn Sie mir nicht glauben wollen ..."
„Sie haben das schon einmal jemandem erzählt, Monsieur? Entschuldigen Sie, aber hat denn schon jemand nach den beiden gefragt?"
„Es sind noch keine fünf Minuten her, Madame."
„Und sie ist in Lyon ausgestiegen. Oder abgeführt worden, wie Sie sagen. Warum?"
„Sie und ihr Partner hatten zusammen nur einen Fahrschein. Sie hatten kein Geld für einen zweiten.
Und sie hatten beide keinen Ausweis. Sie sagten, sie seien ausgeraubt worden." Seine Miene verriet, dass man ihm nichts vormachen könne.
„Ausgeraubt! Entschuldigen Sie, Monsieur, aber das Mädchen ist meine Schwester. Die Familie macht sich große Sorgen. Sie ist mit einem Mann zusammen, der ..."
„Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen, Madame. Tut mir wirklich Leid. Aber dieser Mann ist bestimmt keiner, mit dem ich mir wünschen würde, meine Schwester zu sehen."
„Und außer mir hat noch jemand nach ihnen gefragt?" „Zwei Männer, Madame. Beide dunkelhäutig.
Sie schienen aber mehr an dem Mann interessiert zu sein. Sie waren ziemlich bestürzt, als sie hörten, dass der Zug vor Valence nicht mehr anhält ... Du lieber Himmel, was ist
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