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Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rotraud A. Perner
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körperliche Gesundheit in der neueren Geschichte, sondern wuchsen auch in einer Zeit auf, die in einem neuartigen Wohlstand lebte. Verstädterung, räumliche Mobilität und das Aufbrechen emotionaler Bindungen, das mit ihnen einhergeht, das Anwachsen der sozialen Anomie, die Veränderung in den Familienstrukturen, das Zerbrechen der traditionellen Geschlechterrollen usw., erhöhten die Depressionsraten der Gesellschaft.« 179 Ich finde es allerdings recht oberflächlich, um nicht zu sagen manipulativ, derart parallel auftauchende Erscheinungsformen als Ursache und Wirkung miteinander zu verknüpfen, ohne noch weitere Faktoren mit zu bedenken; wenn daher Ehrenberg eine Seite weiter beiläufig erwähnt, das Thema Depression hätte auf dem Umweg über Angst, Schlaflosigkeit und Überarbeitung den Weg in Publikumszeitschriften gefunden 180 , so wird diese Faktizität meiner Ansicht nach unterbewertet: Ich konnte immer wieder beobachten, wie bestimmte Zeitungsartikel oder auch Fernsehsendungen viele verunsicherte Klient/innen in Beratungsstelle und Praxis lockten, weil sie wissen wollten, ob sie »krank« oder »noch normal« wären. Bei manchen war deutlich wahrnehmbar, dass sie gerne als behandlungsbedürftig diagnostiziert worden wären – dann wäre ihnen ja ein Hauch von Aufmerksamkeit oder, anders formuliert, von der »Droge Arzt«, zugestanden.
    Hinter jeder Sucht liegt eine
depressive Störung oder Erkrankung
verborgen.
    Mit dem Aufbrechen emotionaler Bindungen und der Flexibilitätspropaganda wird der suchende Mensch nicht mehr als bedauernswerter Reisender in der beruflichen oder privaten Landschaft gesehen, der sein Ziel noch nicht erreicht hat, sondern er und zunehmend auch sie wird als vielfach interessierte/r Wählende/r mit dem berechtigten Wunsch nach Abwechslung und neuem, besseren Genuss definiert – sexuelle Promiskuität und Grenzüberschreitungen inbegriffen.
    Werner Gross sieht die von Suchtverhalten betroffenen Personen als beziehungsarme oder beziehungslose Menschen, die aus dem seelischen Gleichgewicht geraten sind 181 und die Abhilfe von außen suchen, was ebenso einen Beweis für die Konsumhaltung darstellt: »Die Probleme löste man nicht mehr selbst, man ging zum Fachmann oder lenkte sich einfach ab. Man konnte das Glück ja kaufen – warum sollte man sich darum bemühen?« 182
    Ich bezeichne diesen Mechanismus wie bereits erwähnt als »Kühlschranksyndrom«: So wie viele Menschen, wenn sie spüren, dass ihnen »etwas fehlt«, ohne zu wissen, was das sein könnte, zum Kühlschrank pilgern, ob dort dieses Etwas zu entdecken wäre, treibt es viele zu analogen vermuteten Quellen, sei es nun ein Wirtshaus, ein Bordell oder »nur« das Internet mit seinen Pornoseiten.
    So wie es nicht Hunger nach materieller Nahrung ist, der einen im Kühlschrank stöbern lässt, und auch nicht Appetit, sondern eher die Suche nach einem »Geschmack«, findet sich im Bereich der Sexualität die Suche nach »Thrills«, nach Aufregung und Abwechslung. »Die Psychologie hat den ›Thrill-Seeker‹, den starken Reizsucher identifiziert, einen Menschentyp, der die Stimulation durch Aufregung und Spannung ebenso braucht wie sein ›normal‹ erscheinender Antagonist die Ruhe und Beschaulichkeit«, berichtet Heiko Ernst von einem der vielen Typen von Arbeitssüchtigen. 183 Es liegt nahe, solch eine verständnisvolle Erklärung auch für Sexsüchtige zu konstruieren; dann lautet der Mythos, jemand wäre eben triebstark und sexuell hoch potent – eine wunderbare Ausrede für Seitensprünge oder andere Formen der Flucht vor der Selbsterkenntnis und ein Selbstbetrug, denn man wähnt, über quantitative Steigerung Befriedigung – das Gefühl der Fülle – erzielen zu können. Tatsächlich fehlt aber Qualität: Zeit, Vertiefung und Liebe.
    Tatsächlich ist der gegenwärtige Durchschnittsmensch nicht nur dem Produkt seiner Arbeit entfremdet, was bedeutet: Er kreiert sein Werkstück nicht mehr, zieht es nicht auf wie ein Kind und erfreut sich an seinem Wachstum und Gelingen. Dieses Erleben von Ganzheit und Fülle – samt zugehörigen Störungen und Fehlschlägen – ist heute fast nur mehr das Privileg von Künstlern und naturnahen Berufen.
    Auch im Beziehungsleben kann ähnliche Entfremdung festgestellt werden: Potenzielle Partner sehen ihre Begegnung nicht mehr als Kreation, pflegen ihre Beziehung auch nicht wie ein kostbares Pflänzchen und achten daher auf Förderung und Stärkung, sondern immer mehr Menschen

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