Der erschoepfte Mensch
auch das Erfordernis einer an die Maschinen angepassten Zeitstruktur mit Strafen bei Verspätung, Unterbrechung oder Abwesenheit, Unaufmerksamkeit, Unsauberkeit etc. und die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnstätte, erklärt Schmidt. »Es herrscht Mangelwirtschaft, Knappheit an Konsumgütern und eine Ideologie der Sparsamkeit und des Aufschiebens von Bedürfnissen«, und das spiegelte sich auch in der herrschenden Sexualmoral wider. 172
»Bis zum 18. Jahrhundert gab es in Deutschland keinen Begriff für die biologische Familie als Fortpflanzungsgemeinschaft«, erinnert der Sexualforscher, denn Familie meinte die gesamte Hausgemeinschaft samt den an der Produktion im Haus Beteiligten, die im Kampf um die Existenzsicherung zusammenhalten mussten. Diese Funktion geht durch die Trennung von Haus und Arbeitsplatz verloren, stattdessen »erwärmt« sich das affektive Klima innerhalb der Familie: »Diese
Emotionalisierung des Familienlebens
hat vier Symptome: Häuslichkeit, romantische Partnerwahl, Gattenliebe und Elternliebe.« 173 (Hervorhebungen im Original.) Praktizierte Sexualität spielte damals als Mittel zur sozialen Bindung eine geringe Rolle, denn eheliche Sexualität galt als Pflicht – vor allem der Frau, die außereheliche männliche verschwand unter dem Deckmantel von Doppelmoral.
Das änderte sich mit der neuen Entwicklungsstufe der Industrialisierung, die statt Konsumrestriktion Konsumexpansion verlangte. War sexuelle Betätigung früher das »Ziel« sozialer Kontrolle, ist sie heute das »Mittel« sozialer Kontrolle, schreibt Gunter Schmidt: Man soll sie benutzen, um seiner Umwelt weniger zur Last zu fallen. 174 Und er resümiert: »Es ist also zu einem Wegfall von Sexualverhalten gekommen – und zwar von solchen Verboten, die in der Überflussgesellschaft ohnehin keine gesellschaftliche Funktion mehr haben. Der Zwang zu verzichten, auch auf sexuelle Wünsche, geht einher mit wirtschaftlichen Mangelsituationen, in denen alle Kräfte für das Überleben oder für den Aufbau der Wirtschaft mobilisiert werden müssen, also dann, wenn viel mehr Bedürfnisse vorhanden sind, als befriedigt werden können«, und führt als Beispiel für diese zwar repressive, aber funktionale »Verzichtsmoral« nicht nur das »viktorianische« 19. Jahrhundert an, sondern auch die Nachkriegssituation in Westeuropa bis Mitte der 1960er Jahre oder die 1920er Jahre in der Sowjetunion. »Heute aber, in den spätkapitalistischen Industriegesellschaften, können Produkte im Überfluss produziert werden, viel mehr, als je verbraucht werden können«, heißt es weiter. »Selbst in der Rezession der letzten Jahre sank die Produktion nur geringfügig, wenn überhaupt; selbst bei steigender Arbeitslosigkeit werden durch Rationalisierung immer mehr Waren hergestellt. Während in den meisten Regionen dieser Welt lebensbedrohlicher Mangel herrscht, stehen wir vor unermesslichen Bergen von Waren und Produkten – allerdings ist auch hier vielen der Zugang zu diesem Überfluss verwehrt. Unter dem Druck der Warenberge werden Einschränkungen und Verzicht unerwünscht; denn: was fehlt, sind Abnehmer, Käufer, also
Waren
-›Bedürftige‹ die die vielen Waren kaufen – und wo Waren-›Bedürftigkeit‹ fehlt, warum sollte da ein Bedürfnis wie Sexualität unterdrückt, sparsam bewirtschaftet werden? Es gehört eher ausgeplündert, z. B. der Nachfrage nach Ware dienstbar gemacht.« 175
Schmidt erinnert daran, dass Sexualreize in der Werbung zu Kaufanreizen transformiert werden, egal wofür, und zitiert den österreichischen Philosophen Günther Anders, der nicht die bedürfnisstillenden Materialien und Energien als begrenzt betrachtete, sondern darauf hinwies, dass umgekehrt die Bedürfnisse nicht ins Unendliche erweitert werden könnten. Schmidt setzt in dessen Gefolge fort: »Der Überschuss an Befriedigungsmitteln erfordert kategorisch alle Bedürfnisse, und damit auch die Sexualität, zu maximalisieren, um konsumieren zu können, was auch immer, um der Masse der Produkte Herr zu werden, um die Produkte zu vernichten, damit neue hergestellt werden können«, und enttarnt: »Aufgabe der Psychologie ist es, Wünsche zu produzieren, die Menschen für ihre Bedürfnisse und Wünsche sensibel zu machen – durch Werbung, aber auch durch Psychotherapien, durch Encounter und Selbsterfahrungsgruppen mit dem Lernziel: ›Ich stehe zu meinen Bedürfnissem – als Losung für verwöhnte Mittelschichtkinder, die kaum jemals etwas entbehrten, und als sei
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