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Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rotraud A. Perner
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dies die ultimative Kulturleistung. Dabei geht es nicht – zumindest nicht nur – um die Befreiung von verbauten, blockierten, verdrängten Bedürfnissen – das ist ja notwendig; es geht um die Optimalisierung des Menschen zum Bedürfniswesen, das kongruent ist mit den spätkapitalistischen sozioökonomischen Verhältnissen.« 176
    In den augenblicklichen Wirtschaftskrisen, die seit 2008 beweisen, wie recht die Warnungen des Club of Rome waren, wir wären längst an die Grenzen des Wachstums gelangt, wird in Publikationen wie auch Seminaren als Bedürfnisziel samt nachfolgendem Konsumangebot »Glück« suggeriert. Ich sehe darin eine Umleitung von Aufmerksamkeit, weg von Erschöpfungszuständen, vor allem aber deren Verursachungen, hin zu einem Wahnbild optimierbarer Perfektion von Befindlichkeiten. Doping: Zaubermittel nicht nur für Sportler als Droge auf der materiellen Ebene des Körpers und Mentaltraining auf der seelisch-geistigen, sondern auch für Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller im Glückstraining am Wochenende im Seminarhotel … Dass dabei allein das Entfernen aus einer Kraft zehrenden Alltagssituation mit Hektik, Machtspielen und Unterlegenheitserfahrungen, dagegen Zuwendungsenergie von anderen Gruppenteilnehmer/innen bzw. Gruppenleitenden – sexuelle Aufladung inbegriffen – und das Königsgefühl des Kunden euphorisieren, nehmen die wenigsten wahr (obwohl dies durchaus redlich, d.h. aussprechbar wäre).
    Das Konsumangebot »Glück«
ist lediglich eine Umleitung von
Aufmerksamkeit.
KONSUMGIER
    Gunter Schmidt schrieb seine Gedanken über die Zusammenhänge von Wirtschaft und Sexualität 1986. Bereits 1955 warnte der deutsch-amerikanische Soziologe und Psychoanalytiker Erich Fromm, dass jeder Akt eines Konsums ein konkreter humaner Akt sein sollte, »an dem unsere Sinne, unsere körperlichen Bedürfnisse, unser ästhetischer Geschmack beteiligt sind – das heißt, wobei
wir
konkrete, empfindende, fühlende und selbständig urteilende Menschen sind«, doch sei davon in unserer Kultur nur wenig übrig geblieben: »Wenn wir etwas konsumieren, so bedeutet das im wesentlichen die Befriedigung von künstlich stimulierten Phantasievorstellungen, die unserem konkreten wirklichen Selbst entfremdet sind«, und: »Unsere Art des Konsums führt zwangsläufig dazu, dass wir niemals befriedigt sind, da es ja nicht unsere reale, konkrete Person ist, die etwas Reales und Konkretes konsumiert. So entsteht in uns ein ständig wachsendes Bedürfnis nach immer mehr Dingen, nach immer mehr Konsum.« 177 Der Mensch von heute sei sogar geradezu fasziniert von der Möglichkeit, noch mehr, noch bessere und vor allem neuartige Dinge zu kaufen, resümiert Fromm, denn der Mensch sei konsumsüchtig geworden.
    »Hinter jeder Sucht ist eine Sehnsucht« nannte der Frankfurter Psychologe Werner Gross sein erstes Buch über die als ganz normal verteidigten Alltagsdrogen, und Michael Musalek, der Primararzt der Rehabilitationsklinik für Alkoholkranke in Kalksburg bei Wien, sagt es noch deutlicher: Hinter jeder Sucht liegt eine depressive Störung oder Erkrankung verborgen. Ähnliches konstatiert der französische Soziologe Alain Ehrenberg in seiner historischen Untersuchung über die Konstruktion des Krankheitsbildes »Depression« im Zusammenhang mit der Entwicklung immer schneller symptombeseitigender Chemikalien: »Hinter den Kulissen beginnt die Emanzipation der Psychopathologie, entstehen in Frankreich neue Kontroversen: Sie behaupten, es gäbe ein neues Phänomen massiver Identitätsprobleme. Die depressive Leere und die Füllung dieser Leere durch Suchtverhalten bestimmen ihr klinisches Bild. Sind Depressionen und Sucht die Kehrseite der Lust, man selbst zu sein, zu der die neuen Normen ermuntern?«, und er stellt weiter fest: »Um Apathie und Stimulierung bilden sich zwei große Krankheitsbereiche.« 178 Es liegt zur Hälfte auch an der Ausrichtung der Aufmerksamkeit, was man wahrnimmt – nicht alles »springt« einem ins Auge. Durch vermehrte epidemiologische Untersuchungen in den USA wird registriert, schreibt Ehrenberg: »Auch die Heranwachsenden und die jungen Erwachsenen, die bis dato relativ immun waren, seien Depressionen nun vermehrt ausgesetzt. Es werden Korrelationen zu Alkoholismus und Drogenmissbrauch, der Steigerung der Selbstmordrate (vor allem unter jungen Weißen) und der Tötungsrate (vor allem bei jungen Schwarzen) festgestellt. Nun haben aber die nach 1945 Geborenen nicht nur die beste

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