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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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geliefert.«
    Breitbeinig ging er auf Katharina zu. Er hatte große braune Augen und eine spitze Nase mit Sommersprossen. Und einen zu kleinen Mund. Und er hatte einen peinlichen Flecken auf seinem Hosenlatz. Ohne den Blick abzuwenden, holte Ferdinand sein Messer aus der Tasche und klappte es auf. Katharina erschrak. Er wirkte viel größer und brutaler, als er nun direkt vor ihr stand.
    »Wenn du versuchst, mit mir zu spielen, bezahlst du mit Blut.«

12
    Die Prothese drückte Andras seit der Nacht im Sammellager mehr als sonst. Der Schnellrichter hatte ihn mit einer Verwarnung laufen lassen. Andras hatte auf seine Fragen nicht geantwortet, nur seinen Namen gemurmelt, immer wieder, bis der Protokollführer unwillig den Kopf vom Papier hob und blökte: »Jetzt halt endlich dein Maul!«
    Den Blick starr auf die Rotweinflecken auf der Tischplatte geheftet, war ihm eine kurze Strafpredigt gehalten worden, der Ordnung halber. Der Schnellrichter war sich der Sinnlosigkeit seiner Worte bewusst. Ob der junge Mann mit den traurigen Augen in dem Allerweltsgesicht ihn überhaupt verstand? Die meisten der Russen und Polen und woher sie auch immer kamen, hatten in den Jahren, in denen sie zwangsweise im Deutschen Reich gearbeitet hatten, kein Wort Deutsch gelernt.
    Dass es zu Unfällen kommen könnte, redete er Andras ins Gewissen. Dass er ihn doch bestimmt verstünde, die kostbare Porzellanprothese, was täte Andras ohne sie? Dass Andras selbst erlebt hätte, wie gefährlich es auf den Trittbrettern wäre, wie leicht man abstürzte. Bei ihm sei es Gott sei Dank noch einmal glimpflich ausgegangen. Damit war der Schnellrichter mit seinem Latein am Ende. Achselzuckend entließ er Andras in die Freiheit. Eine halbe Stunde später stand Andras wieder auf dem gewohnten Fleck am Sendlinger Tor.
    Und er hatte richtig vermutet. Der rätselhafte Amerikaner erschien wenige Minute später und flanierte bei den Straßenbahnen auf und ab. Einige Frauen drehten sich nach dem Fremden um, der aus der Menge der graugesichtigen Männer herausstach. Wegen der Hitze trug er nur eine Kordhose und ein helles Leinenhemd, das über der Brust aufgeknöpftwar. Andras beobachtete ihn von seinem Versteck hinter einem Schuttlader. Nun war Andras sich sicher, ohne jeden Zweifel war es derjenige, der ihn bei dem langen Marsch im April die Böschung hinuntergestoßen hatte. An dem leicht nachfedernden, schlendernden Gang erkannte er ihn.
    Seit dem frühen Morgen hatte die Polizei den Platz großräumig abgesperrt, um den Schwarzmarkt in Hinterhöfe und Gaststätten zu vertreiben. Überall patrouillierten Schutzpolizisten, froh, sich nicht mehr den Tätlichkeiten der Schwarzmarkthändler erwehren zu müssen, und katzbuckelten vor den amerikanischen Streifen der Militärpolizei. Neidisch sahen sie mit ihren einfachen Holzknüppeln auf deren Waffen. Mit dieser Ausrüstung könnte man den Ausländern anders gegenübertreten.
    Andras ließ Martin eine Weile zappeln, bevor er ihm mit einer Krücke zuwinkte und vorausging. Es war ein beschwerlicher Gang. Sein Retter folgte ihm mit gleich bleibendem Abstand die Sendlinger Straße entlang, über den Marienplatz. Von dort über den Max-Joseph-Platz mit den Portikussäulen des Nationaltheaters, die nichts mehr trugen, zum Odeonsplatz, dann über einen schmalen Pfad zur Brienner Straße, vorbei an dem Obelisken, der inmitten eines riesigen Trümmerfeldes in den Himmel ragte, bis zum Königsplatz.
    Dort erklomm Andras einen Steinhaufen über Stufen, die man als solche kaum erkannte. Vor dem Eingang zu der Behausung hing ein weißes Bettlaken, darauf hatte Georg mit einem verkohlten Holzstück einen Türrahmen und eine Klinke gemalt. Andras schob den Stoff zur Seite und ließ Martin eintreten.
    Georg und die anderen ehemaligen Soldaten waren ausgeflogen. Abgestandener Zigarettenrauch mischte sich mit dem Geruch von feuchtem Mauerwerk. In dem Raum lagen sauber zusammengefaltet Stapel von grauen Militärdecken.In einer Ecke stand ein schwarzer Koffer, Kleiderbündel und einige Bücher waren achtlos im Raum verstreut. Neben dem Eingang barg eine offene Holzkiste Devotionalien, Arme und Köpfe von Heiligenfiguren sowie leere Geldbörsen. Andras schloss, als er Martins neugierigen Blick bemerkte, schnell den Deckel. Hinter der Kiste thronte eine fast achtzig Zentimeter hohe Maria aus Gips. Ihr hellblauer Umhang war an vielen Stellen angeschlagen. Das Kind, das einst in ihren Armen geruht hatte, war verschwunden. Sie lächelte

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