Der erste Sommer
schwerer Einkaufstasche schmunzelte, als sie die zwei Jungen sah, die sie an einen Priester mit seinem Ministranten beim Hochamt erinnerten. Ewald trug den Brief vor sich her wie die Monstranz. Sein Bewacher folgte ihm mit gehörigem Abstand und demütig gesenktem Kopf. Sie bekreuzigte sich spaßeshalber, als die beiden an ihr vorbeizogen.
Die Jungen folgten den verschlungenen Wegen von der Nymphenburger Villa über den Hauptbahnhof zum Marienplatz. Dort traute sich Ewald nicht, zu der Säule zu sehen, er hatte immer noch ein schlechtes Gewissen wegen der Prinzessin, die früher auf dem Sockel gestanden hatte. Vor dem ›Hotel Vier Jahreszeiten‹ hielt Ewald zielstrebig auf die gelangweilten Schutzpolizisten zu, die auf Trümmerblöcken sitzend rauchten. Der Mann, der gestern so wütend geworden war, war nicht dabei. Während sich sein Bewacher abseits hielt, drückte Ewald dem erstbesten, einem schlaksigen Mann mit Sommersprossen, den dreifach gefalteten Zettel in die Hand: »Der ist für den Mann, der meine Zigaretten weggenommen hat.«
»Da ist ja unser Todesengel wieder. Das ist aber mutig, nach dem Auftritt gestern. Hat Wilhelm zu dir gesagt, dass du wieder kommen sollst?«, fragte der Polizist über beide Ohren grinsend. Er nahm den Brief und steckte ihn in die Tasche. »Ich verspreche, dass ich deinen Brief weitergebe, wenn ich ihn sehe.«
»Am besten, du verziehst dich bald wieder, denn Wilhelm ist immer noch sehr böse auf dich, Kleiner, er hat wegen eurer ertrunkenen Prinzessin Ärger bekommen«, mischte sich ein anderer ein. Er nahm Ewald bei der Hand und drückte ihn auf einen Stein. »Hast heute gar nicht deine Aufpasserin dabei.«
»Aber Sie müssen den Brief lesen! Sonst werde ich verkauft«, piepste Ewald aufgeregt.
»An die Amerikaner? Du machst uns nur Arbeit, und Arbeit haben wir genug. Du musst warten, bis du an der Reihe bist.«
»Nein, sonst gibt es eine neue Leiche!«
Ewald sah im Geist seine Schwester mit aufgeschnittener Kehle im Wohnzimmer der Villa liegen. Panik stieg in ihm hoch. Der Polizist lachte gutmütig.
»Spiel mal mit was anderem, das mit den Leichen ist vorbei. Bald öffnen die Schulen wieder, dann kommst du auf andere Gedanken.« Er hielt einen Moment inne. »Sag mal, Kleiner, kanntest du den Mann im Wasser eigentlich? Denk mal genau nach. Vielleicht hast du ihn vorher schon einmal gesehen?«
Ewald schüttelte den Kopf. Katharina hatte Recht: Polizisten waren schwer von Begriff. Es war eine Prinzessin, die sie mit ihren Steinen erschlagen hatten, kein Mann. Sie trug doch ein Kleid! Aber er hatte keine Zeit, es dem Polizisten zu erklären. Vorsichtig sah er sich nach seinem Bewacher um, der zwei Meter hinter ihm stand und ihn nicht aus den Augen ließ, dann flüsterte er:
»Die Panther bringen meine Schwester um, wenn Sie den Brief nicht lesen!«
»Welche Panther?«, fragte der Militärpolizist mit erhobener Stimme und zog Ewald am Kragen hoch. »Sind das diese Halbstarken? Zu der Saubande kannst du uns gerne führen. Die suchen wir schon lange.«
Erschrocken schlug sich Ewald beide Hände vor den Mund. Jetzt hatte er es verraten. Ferdinand würde Katharina foltern und ermorden. Seine Schwester tot. Etwas Schlimmeres konnte er sich nicht vorstellen.
Plötzlich bekam er einen Schlag auf den Hinterkopf. Erfuhr herum. Dicht hinter ihm stand sein Bewacher und hielt seinen Zeigefinger wie die Mündung einer Pistole an die Schläfe, drückte ab und rannte davon. Ewald ließ sich auf den Hosenboden sinken.
Nun hatte er auch noch seine Schwester auf dem Gewissen.
August
14
Anne schleppte den Rucksack voller Fahrradschläuche die Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Dabei pfiff sie die Melodie ihres Lieblingsliedes Davon geht die Welt nicht unter . Den ganzen Weg von Paulas Hof bis in die Barer Straße war sie kein einziges Mal kontrolliert worden. Noch zwei Stockwerke.
Am Hauptbahnhof hatte sie einen Schlauch gegen ein Dutzend neue Strümpfe eingetauscht. Wie gut, dass Bill, der leichtgläubige amerikanische Sergeant, der ihr drei Säcke zum Verteilen an die armen Bäuerinnen der Umgebung geschenkt hatte, nicht ahnte, dass sie davon ausschließlich ihren und Paulas Lebensunterhalt bestritt! Keine ihrer Nachbarinnen besaß ein Fahrrad, also … Sie hielt kurz inne und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Noch ein Stockwerk.
Vor drei Tagen hatte sie alle Blumen aus den Beeten vor dem Hof herausgerissen und auf den Misthaufen geworfen. Nur die knorrige Kletterrose
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