Der erste Sommer
sich wieder ihrer Arbeit zu. Es gab so viel zu tun, und alles wollte mit einem ausgeleierten Farbband und einer Schreibmaschine, die schon zwei Kriege überlebt hatte, erledigt sein.
Annes Auftritt ließ ihr dennoch keine Ruhe. All die Toten der letzten Jahre. Die Hunderttausende, die die Amerikaner auf dem Gewissen hatten. Und die Millionen, die die Russen niedergemacht hatten. Stalingrad. Und jede dritte Frau in Berlin vergewaltigt. Die kamen auch nicht zu den Akten, sondern vermoderten ohne Grab auf freiem Feld. Wer kümmerte sich um deren Angelegenheiten? Ganz München ließe sich wieder aufbauen, wenn man die Steuern aller Toten einziehen könnte. Die Frau aus Penzberg hatte sie erbarmt mit ihrem Leid. Ihr würde es schon gelingen, irgendwie Gras über den Vorgang wachsen zu lassen. Friede sei mit den Toten.
Sie griff noch einmal in den Papierkorb, holte den Steuerbescheid von Leopold Obermair heraus und glättete ihn sorgfältig. Mit einem Schwämmchen, das sie mechanisch in das Stempelkissen drückte, schwärzte sie sorgfältig das riesige Emblem auf dem Briefkopf und zerriss dann das Schreiben ebenso sorgfältig in kleine Fetzen.
15
Katharina räkelte sich in ihrem bonbonfarbenen Seidennachthemd auf der blütenweißen Bettwäsche und vergrub ihren Kopf in einem nach Lavendel duftenden Kissen. Ihr Schlafzimmer war fast sieben Meter lang und fast genauso breit. Gegenüber des breiten Ehebettes führten Glastüren auf einen kleinen Balkon. Davor stand ein mit rosa Jersey bezogener Ohrensessel. Links und rechts des Bettes führten zwei Türen in getrennte Bäder aus italienischem Marmor. An der rechten Wand erstreckte sich über die ganze Länge ein begehbarer Kleiderschrank.
Katharina stützte sich auf und sah zu ihrem Bruder herunter, der im Schneidersitz auf dem Boden saß und an einer trockenen Brotscheibe kaute.
»Würdest du bitte den Frack anziehen und dem Herrn da unten sagen, dass der Tee serviert werden kann?«
Lustig sah sie aus, wenn sie mit geschürzten Lippen die große Dame spielte, so lustig, dass Ewald gegen seinen Willen lachen musste. Seine Schwester funkelte ihn böse an und legte das Buch zur Seite. Ewald sprang auf, um einer längeren Strafpredigt zu entgehen, zog sich das schwarze Jackett über, dessen Ärmel ihm bis zu den Knien hingen, und öffnete die Balkontür. Als gleißendes Sonnenlicht in den Raum fiel,seufzte Katharina theatralisch und vergrub ihr Gesicht wieder in dem Kissen.
»Tee!«, rief Ewald vom Balkon nach unten.
»Und sag der dummen Göre, dass sie das Bad putzen soll«, befahl Katharina aus dem Schlafzimmer.
»Sie heißt Sophie«, erwiderte Ewald unwillig, »und sie ist nett.«
Katharina betrachtete ihre ungepflegten Fingernägel. »Und«, fragte sie beiläufig, »was machen sie, unsere Bewacher?«
»Gar nichts. Sophie liegt auf der Liege und liest aus einem Buch vor. Und Ferdinand macht Sport«, berichtete Ewald von seinem Beobachtungsposten. »Ich glaube, er mag uns keinen Tee machen. Soll ich runtergehen?«
»Was hat er an?«
»Schuhe und eine Hose.« Er verstand die Fragen seiner Schwester oft nicht. Was sollte Ferdinand schon anhaben?
»Und weiter?«
»Nix weiter.«
Katharina setzte sich kerzengerade im Bett auf, strich sich die Haare aus der Stirn und nestelte am Kragen ihres Nachthemdes. »Wie sieht er aus?«
Ewald sah verunsichert zu ihr. »Wie immer.«
Seine Schwester verdrehte die Augen. »Sag ihm, dass ich sterbe, wenn er nicht gleich kommt. Los, geh runter zu ihm!«
Ihr Bruder schloss die Balkontür, zog das Jackett aus und ließ es vor dem Bett fallen. Bevor sie es sich wieder anders überlegte und ihn zurückpfiff, rannte er aus dem Zimmer und polterte die Stufen hinab.
Zehn Minuten geschah nichts. Katharina überlegte schon, selbst nach unten zu gehen, als sie hörte, dass ihr Bewacher die Treppe heraufkam. Hastig ordnete sie ihr Nachthemd und schlug ihr Buch an der Stelle auf, die sie schon auswendigkannte. Ohne anzuklopfen trat Ferdinand ein. Ewald drückte sich hinter ihm herein und verschwand im Badezimmer. Katharina las in aller Ruhe die Seite zu Ende und sah dann erst flüchtig hoch.
»Bitte bedecken Sie sich! Haben Sie gar keine Erziehung?«
Ferdinand nahm die Stola, die an einem Haken neben der Tür hing, und warf sie sich wie einen Schal über seinen schweißglänzenden Oberkörper. Sein Atem ging schwer. Der Brustkorb hob und senkte sich. Katharina betrachtete ihn über den Rand ihres Buches. Seine Augen waren grün wie die
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