Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
Vom Netzwerk:
Jacke an und schob sie aus der Wohnung, nachdem sie den Gaskocher, zwei Becher und eine Flasche Wasser eingepackt hatte. Anne folgte ihr widerspruchslos zum Englischen Garten. Mit Blick auf den Monopteros setzten sie sich auf eine der Bänke. Von hier aus sah man die Silhouette der zerstörten Innenstadt nicht.
    Paula machte sich an dem Gaskocher zu schaffen, bis in dem kleinen Topf zwischen ihnen eine dunkle Brühe dampfte. Anne konnte den Geschmack von Eicheln nicht mehr ausstehen und hing Träumereien nach echtem Kaffee nach.
    »Man muss die Schuldigen bestrafen. Das sind wir unserem Leopold schuldig. Und auch dem, was zu Beginn zwischen euch war«, mahnte Paula mit erhobener Stimme.
    Die beiden Personen auf der nächsten Bank schraken auf und musterten sie übellaunig. Das Kopftuch, das schwarze Kleid mit den Stickereien auf der Brust, die passenden Schuhe: alles zeugte vom kaum versteckten Wohlstand der Landbevölkerung.
    »Manche können einfach nie aufhören. Wegen solchen ist es so weit gekommen, dass wir fliehen müssen«, sagte das junge Mädchen vernehmlich zu ihrem älteren Begleiter und blickte dabei neidisch auf den Gaskocher. »Lass uns gehen, Papuschka, wir haben hier nichts verloren.«
    Sie stand auf, zog den schlaftrunkenen Mann hoch und drückte ihm ihr Bündel in die Hand. Ohne sich noch einmal zu Anne und Paula umzudrehen, griff sie nach der Deichsel des Handkarrens und schob ihren blinden Vater davon.
    »Warum hast du ihn nicht erschossen?«, fragte Anne, ohne auf den beleidigten Abgang zu achten.
    Paula stutzte. Schließlich fiel ihr ein, wen ihre Schwiegertochter meinte.
    »Denkst du etwa immer noch an den kleinen Gauner? Ich schieß auf keinen Mann in Unterhosen.«
    »Mit und ohne Unterhose bleibt er der Mörder deines Sohnes.« Anne funkelte sie an.
    »Bewiesen ist gar nichts.« Paula rührte in dem Blechtopf. »Was hat der Krieg nur aus dir gemacht?! So rachsüchtig warst du doch früher nicht.«
    »Wie war ich denn früher?«, fragte Anne.
    Paula fasste sich an die seit Jahren schmerzende Schulter. Dann nahm sie vorsichtig die dampfende Tasse, führte sie zum Mund und verharrte, bevor sie mit kleinen Schlucken trank.
    »Früher hast du gearbeitet. Bevor du Leopold den Floh ins Ohr gesetzt hast mit dem Geschäft in München.«
    Sie schwiegen.
    »Die Schuldigen werden sich selbst richten«, murmelte Paula nach einer Weile.
    »Ach, auf einmal. Muss es einer noch auf die Stirn geschrieben haben, bevor du es glaubst?«, fragte Anne
    »Ganz so heldenhaft musst du nicht tun. Hast ihn bis nach München verfolgt und dann doch nicht angezeigt.«
    Anne hatte ihr nicht erzählt, dass Martin eine Nacht in Leopolds Wohnung übernachtet hatte. Das dürfte Paula nie erfahren. Sie hätte es nicht verstanden. Anne verstand es selbst nicht mehr. Sobald der Hausmeister ein Schloss gefunden hätte, sollte er es einbauen, damit kein ungebetener Gast mehr hereinkäme.
    »Er war’s. Ich hab ihn aus dem Fenster über der Bäckerei gesehen. Er hat der Agnes seine Jacke über das Gesicht gelegt, bevor die anderen sie aufgeknüpft haben.« Anne liefen Tränen über die Wangen. »So etwas vergisst man nie mehr.«
    Paula goss die heiße Flüssigkeit in Annes Becher.
    »Was wir für einen Unfug reden, wir zwei alten Frauen. Der Leopold würde lachen über uns beide.«
    Anne verzog den Mund und kippte den Inhalt ihrer Tasse mit einer ruckartigen Bewegung hinter sich ins Gebüsch. Paula kannte ihre trotzige Ader. Am besten war, es zu übergehen. Sonst gab es nur Streit.
    »Ach, der Leopold. Der hat auch Amerikanisch gekonnt, ohne es zu lernen. Wenn er noch leben würde, könnte er als Übersetzer arbeiten. Einmal hat er«, der Blick der alten Frau wurde weich, »am Radio rumgespielt und einen englischen Sender gefunden –«
    »Und dann hat er«, unterbrach Anne sie, »uns die Wahrheit Wort für Wort übersetzt, die wir nicht geglaubt haben.«
    Die beiden Frauen sahen sich einen Wimpernschlag lang in die Augen. Sie kannten sich zu lange, um sich noch etwas vormachen zu können. Leopold war kein Held gewesen, trotz seines tragischen Todes.
    Nach einer Weile sagte Paula zuversichtlich: »Wir bekommen das schon heraus, wer ihn auf die Liste gesetzt hat.«
    Anne nickte. »Ich möchte leben, endlich wieder leben.«
    Die alte Frau stand auf und ordnete ihren Rock.
    »Irgendwann bleibst du bei mir auf dem Hof, und wir gehen gemeinsam aufs Feld. Keine krummen Geschäfte mehr mit Fahrradschläuchen. Du siehst doch, dass das zu

Weitere Kostenlose Bücher