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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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Stola, sie hatte das bisher gar nicht bemerkt. Was für ein Glück, dass sie heute gerade diese aus dem unerschöpflichen Kleiderschrank gefischt hatte.
    »So besser?«, brach er das Schweigen.
    »Wie lange gedenken Sie, meinen Bruder und mich noch festzuhalten?«
    Er rieb mit dem Zeigefinger an einem dunklen Fleck auf seiner Hose herum. Immer hatte Ferdinand irgendwo Flecken. Gründlich inspizierte sie ihn von oben bis unten und schüttelte dann wieder den Kopf. Wie konnte ein Mann sich nur so gehen lassen? Der Flaum auf der Oberlippe, störte der ihn nicht?
    »Über uns waltet ein unbeugsames Fatum.« Ferdinand wartete auf die Wirkung seines Spruches, doch Katharina zeigte sich nicht beeindruckt. Mit unverstellter Stimme fuhr er fort: »Dein Bruder hat uns verpfiffen. So etwas muss bestraft werden. Wir haben unseren Stolz und unsere Ehre.«
    Es war unter Katharinas Würde, darauf zu antworten.
    »Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Meinst du, ich habe nicht gleich geahnt, dass du deinen Bruder nur losschicken würdest, um uns zu verpfeifen? Vorsorglich habe ich ihm die falsche Adresse genannt. Das hättest du mir nicht zugetraut,oder? Kannst uns dankbar sein, dass wir ihn wieder eingesammelt haben.« Er grinste selbstgefällig. »Eigentlich hätte ich ihn in der Isar ertränken müssen, wenn ich den Befehlen gehorchen würde.«
    »Du Schuft.« Sie wollte es ganz hart sagen, aber es kam viel zu weich heraus. Ferdinand schien es nicht zu bemerken.
    »Nie wird jemand erfahren, dass wir euch hier gefangen halten. Solange du uns nicht verrätst, wie wir den Tresor im Keller öffnen können, bleibt ihr unsere Gefangenen.«
    »Von mir werdet ihr die Zahlenkombination nie erfahren!«
    Sie schlug die Augen nieder. Ferdinand setzte sich an die Bettkante und lehnte sich gegen das mit bemalter Seide bespannte Kopfteil. Schließlich begann er, an seinen Nägeln zu kauen. »Ewald hat mir erzählt, dass sich eure Eltern davongemacht haben.«
    »Du machst mein Bett schmutzig.«
    »Mir egal.«
    »Lies das!« Sie deutete auf den ersten Absatz in ihrem Buch. »Kannst du überhaupt lesen?«
    Ferdinand schob ihre Hand weg und sah zur Decke.
    »Na«, bohrte Katharina, »was steht hier?« Sie hielt ihm den bunten Umschlag vor die Nase. »Hier steht: Für Schwachköpfe verboten.«
    »Pass auf, du Hexe«, fuhr er auf. »Ich befehlige eine Einheit von drei Mann, und alle hören auf meinen Befehl. Ich habe mit vierzehn mehr Macht als ein Colonel.« Er stand auf.
    »Aber lesen kannst du trotzdem nicht.«
    »Lesen macht meschugge. Das merkt man an dir.«
    »Wenn du mir wenigstens die Wahrheit sagen würdest!« Katharinas Stimme klang wütend. »Diese Göre da unten, sie liest dir vor! Mit ihrem ordinären Zopf, wie ein Kuhschwanz.«
    Ferdinand hängte die Stola wieder an den Haken. »Dasgeht dich gar nichts an, was Sophie tut! Und wenn du noch ein Wort gegen sie sagst, verbrenne ich dein Buch!«, raunzte er und riss die Tür auf.
    »Eines noch«, rief Katharina ihm nach. Ferdinand blieb im Türrahmen stehen und drehte sich um. » Gott ist mein Zeuge! Sie werden mich nicht unterkriegen! Ich werde dies überleben, und wenn es vorbei ist, dann will ich nie wieder hungern – und wenn ich dafür lügen, stehlen oder sogar töten muss! – Das steht hier!« Sie fuchtelte mit dem Buch in der Luft herum.
    Ferdinand schlug die Tür zu und sperrte sie von außen ab.
    »Du ungeschickter Nigger!«, schrie Katharina ihm nach, als er die Treppe hinunterpolterte.
    Vorsichtig öffnete Ewald die Badezimmertür und streckte den Kopf heraus. Sein Gesicht war mit weißen Striemen überzogen.
    »Was hast du gemacht, du Idiot?«, zischte Katharina.
    »Ich rasiere mich.«
    »Geh zurück ins Bad, und lass mich allein, ich muss nachdenken.«
    Ewald zog die Tür leise zu. Sie nahm das Buch wieder in die Hand. Die Seite, die sie Ferdinand vorgelesen hatte, riss sie heraus und zerknüllte sie. Das Knäuel warf sie gegen die verschlossene Tür.

16
    Es war eine beschwerliche Reise vom Starnberger See nach München für die alte Frau. Paula war voller Sorge aufgebrochen, nachdem Anne schon seit drei Tagen von ihren Besorgungen in München hatte zurück sein wollen. Nur deshalb nahm sie das stundenlange Warten auf dem Bahnhof in Tutzingund das ungehobelte Verhalten der amerikanischen Soldaten in Kauf.
    Anne saß in der Küche und hatte die Fotografien von Leopold auf dem Küchentisch ausgebreitet. Paula umarmte sie stumm. Wie einem kleinen Kind zog sie ihr eine

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