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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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fluchte und warf den Deckel zu, worauf sie sich gegen seine Anordnung umdrehte und auf dasschwarze Koffergrammophon starrte, das zwischen ihnen auf dem Bett stand.
    »Hast du das auch gestohlen?«, fragte sie spöttisch, um ihre Rührung zu verbergen.
    Ferdinand richtete sich auf. »Nein«, sagte er mit finsterem Blick. »Ich habe es von meinem eigenen Geld organisiert.«
    »Das ist wunderschön. Hoffentlich musstest du niemanden deswegen umbringen.«
    Katharina öffnete den Deckel, entnahm dem dafür vorgesehenen Fach eine Nadel und spannte sie in den Tonarm ein. Die zerkratzte Platte drehte sie um. Bevor sie die Nadel sacht auf die Schellackplatte setzte, forderte sie Ferdinand auf, sich neben sie zu legen. Er zog seine Stiefel aus, stellte sie nebeneinander ans Bettende und warf sich auf Ewalds Bettseite.
    Aus weiter Ferne begann das Klarinettenvorspiel einer Tenorarie. Die Stimme begann unendlich süß mit einem traurigen Schluchzer:
     
Und es blitzten die Sterne, und es dampfte die Erde, die Tür des Gartens knarrte, es nahten eilige Schritte.
     
    Katharina setzte sich neben Ferdinand. Gemeinsam lauschten sie andächtig.
    »Das ist schön«, flüsterte Ferdinand, als die Platte zu Ende war. »Lass es uns noch einmal hören.«
    Sie nickte. In Ferdinands Socke war ein Loch, aber das war ihr nun egal. Die schlaflosen Nächte, in denen sie ihn herbeigesehnt und unmittelbar darauf verwünscht hatte, hatten sich schließlich gelohnt. Sie lächelte und sah ihm kurz in die Augen.
    Wieder und wieder musste Katharina die Platte auflegen und das Grammophon aufziehen. Jedes Mal wartete sie mit der Kurbel in der Hand auf sein »Noch einmal«. FerdinandsStimme war so sanft und rau, ganz anders als sonst. Irgendwann summte er die Melodie leise mit. Falsch zwar, aber Katharina hätte die Musik in dem Augenblick anhalten wollen und heulen und klatschen.
    So ging es, Stunde um Stunde, bis er stiller wurde und nur noch leise brummte. Tief in der Nacht schlief er ein. Mit der Überdecke deckte sie Ferdinand zu. Sie lauschte auf seinen gleichmäßigen Atem und zählte, wie oft auf der sich unermüdlich im Kreis drehenden Scheibe das Plattenetikett zu lesen war. Sie durfte nicht einschlafen. Auf keinen Fall. Denn dem Frieden war nie zu trauen. Einer musste immer wach bleiben und aufpassen, ob die Nacht ruhig blieb.
    Als es hell wurde, klappte sie den Deckel des Grammophons herunter. Kurz bevor sie selbst einschlief, richtete sie sich noch einmal auf. Suchend sah sie sich im Zimmer um: auf dem Tischchen neben dem Sessel lag ihr Buch. Sie nahm es, strich mit dem Zeigefinger über den Lederrücken, legte das Lesebändchen zwischen zwei vertraute Seiten und schob es Ferdinand als ihr Geschenk unter das Kopfkissen.

September

26
    Die Luft war klar und rätselhaft blau.
    Das Leben in der Stadt hatte sich, soweit Martin es beurteilen konnte, wieder beruhigt, und nur der sich artig ankündigende Herbst erfüllte die Frauen, mit denen er sich unterhielt, mit Sorgen. Der Schwarzmarkt war von den Plätzen verschwunden, zwischen den Ruinen tollten die Kinder. Bald würden auch die Schulen wieder öffnen. Die meisten Straßenbahnen fuhren bereits wieder. Und wer arbeiten wollte, arbeitete. Und wer es nicht wollte, brachte die Tage auch so herum.
    Zwei Monate nach ihrer ersten Begegnung holte er Andras früh am Morgen in seiner Behausung in den Ruinen am Königsplatz ab. Der blinzelte schlaftrunken seinen Lebensretter an. Es dauerte einige Sekunden, bis Andras ihn erkannte: Martin trug seine Haare nicht mehr so kurz geschoren wie im Juli. Sein gestärktes dunkelblaues Hemd war bis oben zugeknöpft. Das Gesicht war bronzefarben. Er musste seitdem viel Zeit in der Sonne verbracht haben.
    »Jetzt brauche ich dich. Komm mit«, befahl Martin.
    Sofort stand Andras auf, zog eine Jacke über und folgte ihm mit seinen Krücken. Eine halbe Stunde liefen sie durch das immer noch hochsommerliche München ins Lehel, einem Stadtteil in Isarnähe. Vor einem zerstörten Gebäude blieben sie stehen. Nur die Eingangstür und rechts zwei Meter Mauerwerkmit einem großen Torbogen erinnerten daran, dass der Trümmerhaufen einst bewohnt gewesen war. Auf der Straße spielten Kinder Verstecken. Ein Mädchen in löchrigen Socken stürzte und blieb liegen. Andras wandte den Blick ab. Das Kind begann zu heulen. Da sich von seinen Spielgefährten niemand darum kümmerte, stand es schließlich wieder auf und putzte sich mit dem Rockzipfel die Nase ab.
    »Wie alt bist du

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