Der erste Sommer
einer Pfauenfeder, alles lag in dem Schrank wild durcheinander. Nun waren die Motten darin und vermehrten sich. Beim Aufschieben der Tür taumelten sie Katharina entgegen, kreisten um sie, bis Katharina sie mit einem Pantoffel totschlug. Die Wände waren schon ganz fleckig. Keine durfte überleben. Sie zählte die Erschlagenen und leitete aus dem Ergebnis ihr Schicksal – und das von Ferdinand – ab. Die Nächte verbrachte sie in Angst, dass sich eine in ihren Haaren einnisten könnte, während sie schlief. Oft lag sie bewegungsunfähig und dachte an den neben ihr tobenden Krieg der Motten.
Ihr Buch fehlte ihr, es war ihr einziger Trost gewesen. Während des Krieges hatte sie jeden Tag darin gelesen und ganze Kapitel auswendig gelernt. Nun blätterte wohl Ferdinand inseinem Geschenk, bevor er auf dem Sofa im Wohnzimmer einschlief. Wahrscheinlich lernte er damit sogar lesen! Ihr wurde warm bei der Vorstellung, ihm jede Seite laut vorzulesen, damit er sie mit Schönschrift in ein Heft schriebe. Zwischendurch könnte er seine Turnübungen machen. Kraft und Ausdauer sind eine Schicksalsfrage . Der Satz gefiel ihr.
Ewald lag keuchend auf dem Boden. Sein Gesicht drückte er in den staubigen Teppich. Er musste husten.
»Wie viele hast du?«, fragte Katharina gereizt vom Bett aus.
»Sieben«, flüsterte ihr Bruder.
»Dann kommt dein Vater nicht zurück«, stellte sie lakonisch fest.
»Warum?«
»Du bist wirklich das dümmste Kind der Welt. Mach deine Liegestützen, sonst wird dein Versagen zur Schicksalsfrage für den gesamten Lebensraum.«
»Warum sind wir keine richtige Familie?«
Katharina wusste es, aber sie durfte sich keine Blöße geben. Nur Ferdinand hatte ein Anrecht auf die ganze Wahrheit.
»Wenn du groß bist, erkläre ich es dir.«
»Ich will nicht groß werden.«
Katharina lachte bitter. »Das Leben richtet sich nicht nach dir.«
Unten ging die Haustür. Katharina lauschte angestrengt. Sie merkte nicht einmal, dass Ewald sein Tagspensum nicht erfüllt hatte und stattdessen in einer Ecke mit Schussern spielte.
»Was sagt er?«, erkundigte sie sich einige Minuten später möglichst beiläufig.
»Wer?«, fragte ihr Bruder scheinheilig.
»Unser Peiniger. Unser Folterknecht. Schau nicht so blöd, Ferdinand natürlich!«
»Er sagt, dass er keine Zeit hat.«
»Was heißt keine Zeit?«
»Er muss sich ums Essen kümmern.«
»Das ist wohl ein Witz. Ein Räuber, der sich ums Essen kümmert. Ihr wollt euch über mich lustig machen, aber da habt ihr euch geschnitten!«
Ewald sah sie unschlüssig an. Besser schwieg man, bevor sie sich weiter aufregte.
»Er tut gerade so, als bräuchte ich den ganzen Tag etwas zu essen, wie ein Kleinkind«, fuhr Katharina fort.
»Das hat er überhaupt nicht gesagt«, widersprach Ewald empört, »aber wir müssen alle Kartoffeln klauen und zusammenhalten.«
»Kartoffeln klauen! Ich höre wohl nicht recht. Wenn du das tust, kommt unsere Mutter nie wieder.«
»Die kommt auch so nicht wieder.«
Ewald riss langsam die Geduld. Seine Schwester benahm sich wie ein Kleinkind. Gleich würde sie wieder herumschreien und Lügen über die Eltern verbreiten.
»Du hast nie etwas mitbekommen«, fauchte Katharina ihren Bruder an, »weil du überhaupt nichts zum Überleben beigetragen hast. Hast du mitbekommen, dass dein Vater unsere Mutter geschlagen hat? Nein, hast du natürlich nicht. Aber ich! Wäre ich nicht da gewesen, hätte er sie umgebracht.«
Ewald zählte seine Murmeln. Sophie hatte ihm neue Zahlen beigebracht, die würde er ausprobieren. Sollte Katharina doch reden, er hörte schon lange nicht mehr auf ihr Geschwätz.
28
Wer plündert, wird erschossen , verkündete die bayerische Schutzpolizei auf welligem Papier und empfahl stattdessen: Geht eurer Arbeit nach und seid guter Hoffnung!
Anne warf die leere Weinflasche mit aller Kraft gegen das Plakat auf der gegenüberliegenden Hauswand. Sie flog durch ein zerbrochenes Fenster und landete unversehrt auf einer modernden Matratze. Sie kicherte. Eine Flasche aus beschlagnahmten Beständen hatte gereicht, um betrunken zu werden. Sie hatte es selbst darauf angelegt. Martin stützte sie, als sie zurücktaumelte. Das schwarz gefärbte Leinen ihres Sommerkleides roch nach Kastanien.
»Wird erschossen!«, lallte Anne.
»Guter Hoffnung!«, ergänzte Martin lachend.
Anne hängte sich mit vollem Gewicht an ihn. Die Bartstoppeln gaben seinem Gesicht etwas Anrüchiges, Begehrenswertes. Seine längeren Haare standen ihm noch
Weitere Kostenlose Bücher