Der erste Sommer
gedacht, dass es gar nicht so schlimm werden kann. Wir haben in Allach das schönste Porzellan im Deutschen Reich hergestellt. Es war anstrengend,wenn wir neben den Öfen Wache hielten, nur alle zwei Stunden konnten wir uns auf die Pritschen im Brennraum legen. Aber trotzdem haben wir gute Arbeit abgeliefert. Bis zuletzt. Kurz vor dem Ende wurde die Porzellanabteilung nach Dachau verlegt. Da ist das passiert mit dir. Ich wollte es wirklich nicht. Wir hatten alle Angst. Du weißt doch, was täglich passierte!«
Eine Frau blieb vor ihnen stehen. »Haben Sie das aufgestellt?« Sie deutete auf das Kreuz. »Möchten Sie zum Doktor?«
Martin nickte. Andras machte sich von ihm los.
»Die Richtigen trifft es nie«, sagte die Frau und setzte ihre Einkaufstaschen ab. »Er war nicht da, als es passiert ist. Nur seine Familie. Wahrscheinlich ist er untergetaucht. Recht hat er. Aber er war ein guter Arzt. Und beliebt bei denen in Berlin. Aber besser ohne Arzt als die Russen im Haus!«
»Er lebt?«, bohrte Andras nach. Mit einem Blick zur Seite nahm er wahr, dass Martins Augen glänzten.
»Sind Sie sein Patient?« Mitleidig musterte sie die Krücken von Andras. »Eigentlich hat er nur Frauen behandelt, Sie wissen schon.«
»Lebt er noch?«, wiederholte Andras dringlicher, als ginge es ihn etwas an.
»Das weiß nur der Herrgott. Jedenfalls liegt er nicht unter dem Schutt da. Niemand weiß, wer bei dem Angriff im Keller war.« Sie deutete auf den Trümmerhaufen und ging weiter.
»Und seine Frau?«, hielt Martin sie mit fester Stimme auf.
Sie zuckte die Schultern. »Sie sind wohl einer von den ganz Neugierigen, oder? Ich schwärze niemanden an. Auch wenn’s der größte Lump ist. Das geht mich nichts an, mit welchen von seinen Patientinnen er – solange einer ein guter Arzt ist. Natürlich hatte der Doktor eine Frau. Und was für eine! Aber die ist verschollen seit dem Angriff mit der ganzenBagage. Gott gebe ihrer geplagten Seele Ruhe.« Sie deutete auf den Trümmerhaufen und ging mit schnellen Schritten davon.
»Warum hast du mich in den Abgrund gestoßen?«, setzte Andras von neuem an, sobald die Frau außer Hörweite war.
Martin schwieg abwesend.
»Bitte!«, bohrte Andras.
»Fängst du wieder damit an? Warum bist du dir so sicher, dass ich das war?«
»Du siehst demjenigen zumindest ähnlich, glaube ich. Ich würde gerne etwas für dich tun, um mich erkenntlich zu zeigen. – Warst du es wirklich nicht?«
»Wann hörst du endlich mit der Fragerei auf?«, fragte Martin müde. »Es ist vorbei.«
»Was soll ich sonst tun, wenn du nicht antwortest?«
»Du musst dich mit etwas anderem beschäftigen. Tu irgendwas, alles ist besser, als Fragen zu stellen, auf die es keine Antworten gibt.«
»Ich könnte für dich herausfinden, ob der Doktor noch lebt. Wie sieht er aus?«
»Habe ihn lange nicht gesehen.«
Das Mädchen, das vorher beim Spielen hingefallen war, rannte auf sie zu und keuchte: »Sie müssen mich retten, sonst bin ich verloren.«
Es kauerte sich hinter Andras auf den Boden. Martin ging los. Andras wollte ihm folgen, doch das Mädchen zupfte an seinem Hosenbein und bat ihn mit einem flehentlichen Blick, sie zu beschützen. Er blieb auf die Krücken gelehnt stehen und rief Martin nach:
»Wenn ich deinen Vater gefunden habe, sind wir quitt, oder? Seinen Namen kenne ich wenigstens schon.«
Andras schien, als ob Martin nicken würde, auch wenn er sich nicht einmal mehr zu ihm umdrehte.
27
Das Grammophon stand noch immer auf Katharinas Bett. Doch es ließ sich nicht mehr benutzen, da alle Nadeln stumpf waren. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, es wegzustellen. Also schlief sie mit ihrem Bruder darum herum. Wenn Katharina allein im Zimmer war, strich sie mit den Fingern an den Kanten entlang. Klappte es auf und wieder zu, eine halbe Stunde ohne Unterbrechung. Das Schlafzimmer hatte sie seit der mit Ferdinand verbrachten Nacht nicht mehr verlassen. Sie wollte ihn hier in Erinnerung behalten, mit seinen löchrigen Socken auf ihrem Bett liegend. Außerdem hatte sie fast täglich Kopfschmerzen. Sie wollte sich nichts anmerken lassen, sonst meinte er noch, sie wäre schwanger. Nicht auszudenken, dann müssten sie heiraten. Einen Räuber heiraten, unmöglich! Dann lieber die Schmerzen ertragen.
Katharina vertrieb sich die kürzer werdenden Tage damit, die Kleider in dem riesigen Wandschrank anzuprobieren, verlor aber auch daran bald die Lust. Abendkleider und Dirndl und schwarze Röcke und sogar einen Hut mit
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