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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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denn?«, fragte Martin die Kleine.
    Das Mädchen drehte sich um und antwortete mit einem Knicks:
    »Neun«, und lief davon. Martin schüttelte den Kopf.
    »Magst du Kinder?«, fragte Andras und trat dicht neben ihn.
    »Nö.« Martin konzentrierte sich wieder auf das kaum entzifferbare Messingschild neben der Tür. »Deshalb sind sie also nicht auffindbar. Ich hätte es mir denken können.« Er sah Andras mit einem Ausdruck der Erleichterung an. »Ich bin zu spät gekommen.«
    Mit Mühe entzifferte der das Schild, das auf eine Arztpraxis im Hinterhaus hinwies.
    »So viel Zerstörung überall«, flüsterte er. Dabei fixierte er Martins gewichste Lederstiefel. Die mussten teuer gewesen sein.
    »Du lebst noch, also jammere nicht«, wies Martin ihn zurecht.
    »Die Toten können nicht jammern«, verteidigte sich Andras. »Das ist das Vorrecht der Überlebenden.«
    »Ich kann Männer nicht ausstehen, die sich gehen lassen.«
    »Kanntest du den, der hier gewohnt hat?«, fragte Andras eingeschüchtert. Martin hatte Recht. Er würde sich in Zukunft zusammenreißen.
    »Wir sind uns vor vielen Jahren begegnet.«
    Hinter dem Torbogen war ein schmaler Weg zum Hinterhausfreigeräumt. Sie durchquerten den ehemaligen Hof, dessen Ausmaß an den Kronen entlaubter Buchen abzulesen war, die mit zerfetzten Ästen aus den Trümmern ragten. Das Hinterhaus existierte so wenig wie das Vorderhaus. Nur eine zweite Erhebung der Trümmer ließ erahnen, wo es gestanden haben mochte.
    »Warte hier auf mich!«, sagte Martin und kletterte auf den Schutthügel. Auf halber Strecke blieb er stehen und wühlte zwischen den Steinen. Schließlich zog er zwei ungleich lange Bretter heraus. Nach einigem Suchen fand er ein Stück Draht und fixierte die Holzstücke zu einem Kreuz, das er ganz oben in den Schutt rammte. Anschließend stieg er wieder herunter und ging wortlos an Andras vorbei zurück zur Straße. Auf der anderen Seite hielt er an und blickte zurück. Das Kreuz überragte die Fassadenreste um einige Meter.
    »Endlich Frieden.«
    »Und was sollte ich dabei?«, fragte Andras, der ihm ratlos gefolgt war.
    »Ich wollte nicht ohne Zeugen herkommen. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich ihn getroffen hätte.«
    »Wen? Deinen Vater?«
    »Ich mag es nicht, ausgefragt zu werden«, brummte Martin. Trotzdem ergänzte er nach einer Pause: »Mein Herr Vater hat sich sein Leben lang nicht um mich gekümmert. Das Geld stand ihm immer näher. Damit hatte er mehr Glück als mit mir.«
    »Und jetzt willst du ihn wieder finden?«
    Martin richtete sich auf. »Meine Eltern sind weit weg. Mir reicht, dass dieser Film zu Ende ist.«
    »Das ist alles, was du wissen wolltest?«
    »Jeder sucht irgendwen.«
    Andras hatte seine Mütze abgenommen und fuhr mit den Fingern nervös an dem Innenband herum:
    »Ich weiß wieder, wer du bist. Du warst einer von den Arbeitern aus dem Stammlager in Dachau, du warst nicht bei uns in Allach in der Porzellanmanufaktur. Im März hast du Schläge bekommen, weil du eine Figur verunstaltet hast. Aber die Figuren waren mir wichtig. Du hast ihr die Finger in die Augen gedrückt. Ich war so wütend, dass ich dich verpfiffen habe. Du hast geschrieen, als man dich schlug. Dafür wolltest du dich an mir rächen, oder? Deswegen hast du mich in den Abgrund gestoßen. Du wolltest mich gar nicht retten, sondern mich umbringen!« Martins rätselhaftes Lächeln verunsicherte Andras. »Oder etwa nicht?«
    Sein Kopf zitterte. Martin legte ihm einen Arm um die schmalen Schultern.
    »Was haben die dort nur aus dir gemacht?«
    »Ich war kein Häftling. Das darfst du nicht denken. Ich habe damit nichts zu tun. Ich hab immer nur gearbeitet. Gut gearbeitet. Tag und Nacht gearbeitet. Wenn bei der Arbeit etwas nicht klappt, kann ich nicht anders.«
    »Ich glaube dir ja.«
    »Ich hatte damit nichts zu tun. Ich bin Keramik-Meister, nichts weiter, kein Krimineller und auch kein Kommunist.« Andras biss sich auf die Unterlippe. »Meine Familie hatte bei Budapest eine eigene Porzellanfabrik. Zur Kunsthochschule haben mich meine Eltern nicht gelassen, weil ich den Betrieb übernehmen sollte. Im Herbst ’43 stand ein deutscher Offizier in meiner Werkstatt, mit einer Nietzsche-Büste in den Händen. Meine Spezialität sind Gesichter und komplizierte Güsse. Er hat mich gefragt, ob ich sie gemacht hätte. Ich hatte zehn Minuten Zeit, einen Koffer zu packen. Sie haben mich nach München gefahren, in einem schwarzen Mercedes wie einen Staatsgast. Da habe ich

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