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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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war das? Als sie die Spritze umklammerte, wusste sie noch, warum sie Scarpia töten musste. Seitdem ist Toscas Hirn leer gefegt. Wie der Himmel über ihr. Die Bilder in ihrem Kopf überschlagen sich. Sie möchte sich nicht daran erinnern. Nicht jetzt. Nicht daran, was ihr von solchen wie ihm angetan wurde, nur weil sie anders ist als andere Sängerinnen, wegen des verhassten Teils zwischenden Beinen. Beten sollte sie in der Todesstunde. Beten. Sie sieht auf ihre Hand. Der Tasche, die ihr immer noch am Unterarm baumelt, entnimmt sie zwei Handschuhe und streift sie über. Sie lehnt sich an eine Mauer, schließt die Augen und reißt die angeklebten Wimpern ab.
    Tosca ist bereit für den dritten Akt, das Finale.

24
    Anne verließ das Schwimmbad in Begleitung des Corporals. Auf der Straße stießen sie auf eine Menschenmenge. Ihr Begleiter fühlte sich sofort in der Pflicht, für Ordnung zu sorgen. Barsch befahl er den Umstehenden, sie durchzulassen. Auf der Fahrbahnmitte lag, inmitten einer Blutlache, der grausam entstellte Körper einer jungen Frau.
    »Überfahrn hams es«, rief ein Mann mit Bierbauch und versteckte sich in der Menge. Aber die Wut trieb ihn gleich wieder vor: »Überfahrn und ned amoi ogholtn, de saubern Herrn Amerikaner und de Ausländer, da ham se de richtigen zamma gfundn.« Als der Mann merkte, dass der Corporal sein Bayerisch nicht verstand, ließ er seiner Wut freien Lauf. »Gsehng hob i’s und braucht koaner glaubn, dass er so einfach davo kimmt, weil des ist a Mord. Mord is des, des sog i jedm ins Gsicht, und zwar a hinterhältiger.« Urplötzlich wechselte er ins Hochdeutsch. »Aber es gibt eine Gerechtigkeit, dafür werden wir sorgen in diesem Land, wir haben immer für Gerechtigkeit gesorgt. Da kann man sagen gegen Bayern, was man will, aber gerecht sind wir. Nicht in der Vergangenheit sollte man herumwühlen wie eine Sau im Dreck.« Er deutete auf die Leiche. »Hier spielt die Musik! Hier findet das Verbrechen statt, in unserem schönen München, von demnichts übrig gelassen wurde außer Trümmer und Hunger und verkommenen Weibern. Wenn erst der Winter kommt, dann ist es aus mit derer Hurerei.«
    »Was ist eigentlich passiert?«, unterbrach ihn Anne.
    »Mit Stöcken haben sie den Radlern die Hüte vom Kopf geschlagen. Von ihrem Lastwagen aus. Und das Mäderl hatte so einen feschen rosa Hut auf. Runtergestürzt ist sie und unter die Räder gekommen. Und gehalten haben’s auch nicht, die Amerikaner mit ihrer Ausländerfracht, die Bagage, die Polen haben nur gelacht auf dem Wagen.«
    Der rote Kopf des Mannes schien gleich zu bersten. Die Umstehenden starrten fasziniert auf die geifernde Kugel aus Zorn und Selbstgerechtigkeit. Anne fröstelte. Martin hatte ihr im Schwimmbad den Hut der Verunglückten geschenkt. Er würde auch ihr Unheil bringen. Jede Begegnung zwischen ihr und ihm rief den Tod herbei. Einer von ihnen würde den Sommer nicht überleben, dessen war sie sich mit grausamer Klarheit sicher.
    Der Corporal, der kein Wort des bayerischen Redeschwalls verstanden hatte, sah sich hilfesuchend um.
    » May I translate for you? «, bot sich eine Passantin in einer hochtaillierten Hose an.
    Er nickte und sagte in seinem gebrochenem Deutsch: »Meine Eltern stammen aus Frankfurt. Ich liebe Deutschland.«
    Die Passantin deutete auf die Tote: » This is a dead German girl. And this «, sie zeigte auf den Mann mit dem roten Kopf, » is a living Bavarian asshole. She was with a bicycle and a pink hat on the top .«
    » Where’s the bike? «, fragte der Corporal knapp.
    Das Mädchen gab die Frage an den Mann mit dem roten Kopf weiter. Alle taten, als würden sie das Fahrrad suchen, obwohl alle gesehen hatten, dass es unmittelbar nach dem Unfall von einem der Schaulustigen gestohlen worden war.
    Gemächlich näherten sich zwei deutsche Schutzpolizisten, die sich schon vor einer halben Stunde auf den Weg von der Münchener Freiheit gemacht hatten. Die Aussicht auf einen Todesfall mit Beteiligung von Amerikanern hatte sie nicht eben zur Eile angetrieben. Als sie die Uniform des Corporals sahen, beschleunigten sie jedoch ihre Schritte. Unmerklich löste sich bei ihrem Näherkommen die Gruppe der Umstehenden auf.
    Anne starrte auf die Tote. Ihre Züge waren friedlich, auch wenn die Glieder grausam verrenkt und zerdrückt waren. Halb wandte sie das Gesicht ihren Betrachtern zu. Anne las einen stummen Vorwurf darin. Aufmunternd nickte der Corporal ihr zu, aber sie wandte sich, ohne eine Reaktion zu

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