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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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sind vom Rasieren entzündet. Sie steht vor einem angelehnten Brett, dem Zugang zur Bühne. Vom Zuschauereingang kommt ihr glühender Verehrer auf sie zu: ein kleiner, schwitzender Fettberg. Er bleibt vor ihr stehen, hebt die Spritze auf und hält sie Tosca hin.
    »So etwas wirft man nicht auf den Boden. Vor allem nicht, wenn man es täglich benutzt.«
    Ratlos sieht Tosca ihn an. Er ist ihr schon während ihres Auftrittes unangenehm aufgefallen mit seinem affektierten Beifall und Bravo-Rufen.
    »Tut Morphium ihrer Stimme gut?«, fragt er mit routinierter Anteilnahme.
    »Ich singe damit wie eine Nachtigall«, antwortet sie. Ihre Sprechstimme ist rau, als hätte sie jahrelang kein Wort gesprochen.
    »Das möchte ich hören.«
    Sie lehnt ihren nackten Rücken an das Brett und zündet sich eine Zigarette an. Am Horizont ertrinken die letzten Sonnenstrahlen in einem Wolkenmeer. Vor ihr erstreckt sich ein Kornfeld, das von einem Wäldchen umschlossen ist. Die Ähren wiegen sich sacht im Abendwind, darüber thront, uneinnehmbar, die Alpenfestung. Ihr schaudert. Die Autos der Zuschauer, darunter ein schwarzer Mercedes und ein amerikanischer Militärjeep, stehen links von ihr auf einer Wiese.Mit ausgestrecktem Arm hält sie die Zigarette von sich weg und drückt mit der freien Hand ein Taschentuch auf ihre Ellbeuge. Ihre Augen sind leicht glasig. Mit dröhnender Stimme kämpft sich im Hintergrund Maria, die Leiterin des Kabaretts, durch das legendäre Abschiedslied, mit dem alle Aufführungen in der »Engelsburg« enden. Bei jedem falschen Ton runzelt Tosca die Stirn.
    »Wovon haben Sie die letzten Jahre gelebt?«, fragt der untersetzte Mann, bemüht, das stockende Gespräch fortzusetzen.
    »Ich habe auf Beerdigungen gesungen.«
    »Mit Ihrer Stimme gehören Sie auf eine große Bühne.«
    »Natürlich«, antwortet Tosca spöttisch, »es war schon immer mein größter Wunsch, einmal in der Oper aufzutreten. Aber beim Vorsingen haben sie nach einer Arie abgewinkt und mich nach Hause geschickt.« Sie sagt es, als würde sie sich über sein Kompliment lustig machen. Aber er merkt es nicht.
    »Mit dieser Stimme? Was für Dilettanten.«
    Immer noch hält er ihr die Spritze hin. Sie betrachtet den Blutfleck auf dem Taschentuch und steckt es schließlich weg.
    »Ich singe das falsche Fach. Hätte man mich engagiert, wären die Russen Berlin nicht zu nahe gekommen. Ich bin die Geheimwaffe, die nie zum Einsatz kam. Ich heule wie ein abgestochenes Schwein, wenn ich etwas Dramatisches singe. Ich bin fürs leichte Fach gemacht.«
    Sie drückt dem Mann die Zigarette in die Hand, stellt sich in Positur, flüstert: »Hören Sie zu!«, und atmet tief ein.
    Maria ist endlich mit ihrem Stück fertig. Das Publikum in der Scheune applaudiert nach einer kurzen Pause. Tosca atmet aus.
    »Die Stille. Das ist Gesang in seiner höchsten Vollendung.«
    Er denkt nach, schließlich nickt er. Sie überprüft mit Daumenund Zeigefinger, ob die falschen Wimpern noch kleben.
    »Ich hätte mir nie träumen lassen, noch zu leben, wenn die Lindenoper, die Semperoper und das Nationaltheater in Trümmern liegen.« Sie schweigt einen Augenblick lang. »Was für eine absurde Vorstellung, dass ich deren Zerstörung überlebt habe. Und ich alter Zausel trete immer noch auf«, sagt sie und drückt, ohne sich dessen bewusst zu sein, an einem Pickel auf ihrer Brust herum.
    »Das Nationaltheater hat nur kein Dach mehr. Man fällt direkt vom Himmel in die Hölle, ideal für ›Don Giovanni‹. Aber es wird wieder auferstehen wie Phönix«, erklärt der Unbekannte.
    »Ich hasse Mozart.«
    »Sie hassen zu viel. Ich werde Ihnen helfen. Ich bin Arzt.«
    »Wie reizend von Ihnen. Dann helfen Sie!«
    »Wenn Sie mir im Gegenzug einen Wunsch erfüllen: Ich möchte, dass Sie heute Abend im Nationaltheater debütieren. Unter den Sternen.«
    »Ich warne Sie: Noch einmal lasse ich mich nicht nach der ersten Arie stoppen. Dieses Mal singe ich bis zum bitteren Ende.«
    Tosca nimmt ihm die Zigarette wieder ab und zieht daran. In ihrem Bühnenleben haben sich schon einige sonderbare Auftrittsmöglichkeiten aufgetan. Letzte Weihnachten hat sie in einer Metzgerei für Kinder in einem Weihnachtsmannkostüm gesungen. Warum also nicht auch im Nationaltheater für diesen Fettsack … Wenn er sie nur nicht so verliebt angaffen würde.
    »Selbstverständlich lausche ich Ihnen bis zur letzten Note.«
    »Wer begleitet mich?«
    »Mein Fahrer spielt Klarinette. Ich würde mich erkenntlich zeigen, um

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