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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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geworden mit dem Leopold und dir. Die Liste, auf der sein Name stand –«
    Paula verstummte. Das Ungesagte türmte sich zwischen ihnen auf wie ein Berg. Sie blickten zu seinem Gipfel hinauf und erkannten, dass es zu mühselig wäre, ihn zu besteigen. Anne klappte die Herdklappe wieder zu.
    »Wie gut das riecht. Hoffentlich nicht bis in den Hof, sonst steht gleich der Hausmeister vor der Tür.«
    »Und auch dieser Martin war nichts für dich. Ein windiger Bursche. Ich hab noch oft an ihn denken müssen, wie er in seiner riesigen Unterhose auf unserem Hof stand«, fuhr Paula unbeirrt fort. »Den Hund haben wir erschießen müssen wegen ihm. Ganz anders der davor. Wie hieß er? Der Amerikaner, der die Fahrradschläuche bei uns deponiert hat? Hast du den noch mal getroffen? Der hätte zu dir gepasst. Einer mit Herz, vielleicht ein bisschen ungehobelt, aber mit Herz.«
    »Immer fragst du nach Bill. Der hat dir wohl selbst gefallen.Das war doch nur etwas Kurzes für die heißen Tage in der ersten Not nach dem Zusammenbruch. Ich habe ihn ganz aus den Augen verloren, seit ich in München bin.« Anne deckte den Tisch, dann fügte sie hinzu: »Gefühle sind etwas für den Sommer. Im Herbst kann man sie sich nicht leisten. Und im Winter schon dreimal nicht.«
    »Alle Maßstäbe sind dir abhanden gekommen. Aber wenigstens hast du dir von dem Amerikaner nichts anhängen lassen. Das würd grad noch fehlen.«
    »Immerhin haben wir den ganzen Sommer lang von den Fahrradschläuchen gelebt.«
    »Wer ist wir?«
    Sie verstummte.
    »Anne, Anne.« Paula schüttelte belustigt den Kopf. »Schau mich einmal an. Gibt es schon wieder jemand, von dem ich nichts weiß?«
    »Ich sehne mich nach etwas Festem, damit man eine Familie gründen kann, jemandem, der nicht davonrennt. Der zu mir hält. Der Sommer war’s, der hat mich von einem zum anderen getrieben, aber der Sommer ist vorbei.«
    Paula lachte. »Du bist schon so eine!«
    »Martin ist ein Lügner. Dabei habe ich aus dem Fenster über der Bäckerei gesehen, wie er Agnes die Jacke über den Kopf gezogen hat, damals in Penzberg. Ich habe unlängst Einen kennen gelernt, der behauptet, er wäre von Martin aus einem Gefangenenzug gerettet worden. Von Dachau aus, du weißt schon, von dem Lager dort! Das passt alles nicht zusammen. Aber er rennt lieber davon, als mir das zu erklären.«
    »Die Welt ist voller sonderbarer Geschichten.«
    Die gestreifte Katze, die Martin Anne im August geschenkt hatte, sprang auf Paulas Schoß und spielte mit den Fransen ihrer Stola.
    »Aber das ist doch unmöglich, dass Einer an einem Tag jemanden umbringt und jemand anderem das Leben rettet. Das geht doch nicht, dass einer gleichzeitig ein Verbrecher ist und ein Held.« Anne ballte die Fäuste.
    »Was hättest du denn lieber: eher einen Helden oder einen Verbrecher?«
    Sie wurde rot, als hätte Paula sie bei einer Lüge ertappt. Ohne nachzudenken sagte sie:
    »Ich möchte die Wahrheit wissen, damit ich es abschließen kann.«
    »Was abschließen?«
    »Ach, ich weiß auch nicht. Alles Gewesene.« Anne verbarg die Fäuste in den Taschen der Schürze.
    Die Haustür ging auf. Die beiden Frauen sahen sich an. Pfeifend betrat Andras mit einer vollen Reisetasche die Küche. Beim Anblick der alten Frau hielt er inne. Verlegen gab er Paula die Hand und stellte sich vor.
    »Ich bin ein Freund von Anne. Mein Name ist Andreas. Es tut mir leid, wenn ich störe.«
    Er setzte sich auf die Küchenbank und schichtete die mitgebrachten Kartoffeln vor sich auf. Sie schwiegen. Andras fuhr nervös mit dem Zeigefinger die Maserung der Tischplatte nach. Ohne den Kopf zu heben sagte er:
    »Ich habe die Berge gesehen.«
    Anne beugte sich zu Paula und flüsterte ihr ins Ohr:
    »Das ist der Ehemalige aus Dachau, von dem ich dir vorhin erzählt habe. Aber es ist nicht so, wie du jetzt denkst. Mit so einem in der Wohnung kann man sicher sein, dass einem nicht irgendwelche Flüchtlinge aufgehalst werden. Nur deswegen ist er hier.«
    Paula schüttelte nachdenklich den Kopf und wandte sich mit übertrieben lauter Stimme an Andras.
    »Sind Sie ein Held oder ein Verbrecher?«

44
    Tosca lässt die Spritze fallen. Ein dunkler Tropfen quillt aus der Einstichstelle in der Ellbeuge. Wie eine Perle des Todes, denkt sie. Blut bildet die Ouvertüre für die nun folgenden fiebrig überhitzten Stunden.
    Ihr verschwitztes Kleid hat sie aufgeknöpft und den Büstenhalter mit den eingenähten Brüsten abgenommen. Die Haarstoppeln auf der hageren Brust

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