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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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Wenige Meter von ihm entfernt konnte sie nicht mehr. Sie musste die Taschen abstellen. Es war ihr peinlich, ihm ihre Schwäche zu zeigen. Mit dem Mantelärmel wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
    »Haben Sie schon von dem Gefangenenlager gehört?«, rief er ihr statt einer Begrüßung zu. »Sie lassen unsere Soldaten zu Tausenden vor den Toren Münchens in der Kälte verrecken. Und wissen Sie, was das Beste ist? Seit gestern ist selbst das Bierbrauen verboten! Und das in Bayern. Als ob das Leben nicht schon schwer genug wäre! Da stecken bestimmt wieder die Preußen dahinter. Saubande!«
    Anne schüttelte keuchend den Kopf. Der Hausmeister drehte sich um und ging zurück zu seiner Baracke im Hinterhof. Sie packte die beiden Taschen und schob mit der Schulter die Haustür auf. Jede Treppenstufe war eine Qual, aber schließlich hatte sie es bis in den dritten Stock geschafft. Jemand riss unten die Tür auf.
    »Ach übrigens, ich habe endlich ein Schloss für ihre Wohnung!«, brüllte der Hausmeister ins Treppenhaus. Fast ein halbes Jahr hatte er sich nun Zeit gelassen. Er wusste wohl noch nicht, dass sie bald auszöge. Sie lächelte. Niemand wusste es.
    »Schön für Sie!«
    Im Flur schlug ihr eine wohlige Wärme entgegen. Anne freute sich. Sie wurde also erwartet!
    »Andreas!« rief sie, »ich bringe noch mehr Holz! Damit wir nie mehr frieren müssen.«
    Die Tür zur Küche öffnete sich.
    »Es bin nur ich.«
    »Ach, Paula!« Anne versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Schön, dich zu sehen. Wolltest du einmal wieder nach dem Rechten sehen?« Es roch nach Braten. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. »Was riecht hier so lecker?«
    »Ohne Kirchweihgans freut einen die ganze Demokratie nicht«, entgegnete Paula trocken.
    »Was täte ich nur ohne dich? Alles ist so schwankend. DerHausmeister hat gerade behauptet, die Preußen hätten uns das Bierbrauen verboten. An jeder Ecke wird einem etwas anderes erzählt«, entgegnete Anne.
    »Ach, lass die Leute reden! Dummes Geschwätz hat es immer gegeben. Warum sollte das auf einmal aufhören? Die Menschen sind doch nicht klüger geworden, nur weil sie den Krieg verloren haben.« Paula sah aus dem Fenster auf die entlaubte Kastanie. »Den ersten Sommer haben wir jedenfalls überstanden. Jetzt ist es schlimm auf dem Hof, so ganz allein. Alle Stunde klopft eine heruntergekommene Frau und bettelt um ein paar Kartoffeln. Oder noch schlimmer, sie schickt ihre hungrigen Kinder vor. In der Nacht holen sie sich dann den letzten Kohl, ohne vorher zu klopfen. Die Gemüsebeete, die du im Juli angelegt hast, sind alle geplündert.«
    Anne schichtete das Holz in eine Ecke der Küche.
    »Ich kann den Baum vor dem Haus nicht mehr ertragen. Und die Trümmer überall. Die ganze Stadt. Immer muss ich an Leopold denken.«
    Paula bekreuzigte sich.
    »Lass gut sein! Ich habe schon gesehen, dass die Fotografien im Schlafzimmer verschwunden sind.«
    Anne entglitt das Wasserglas, mit dem sie den Braten aufgießen wollte. Es zerbrach auf dem Boden in zwei ungleiche Teile. Paula hob sie auf und setzte sie auf dem Tisch wieder zusammen.
    »Bis das alles wieder aufgebaut ist«, sie tippte an das Glas und stand wieder auf, »bin ich nicht mehr da. Aber zu wissen, dass alle mit anpacken, das reicht mir. Irgendwann wird es wieder Arbeit geben für jeden und echten Kaffee und einen Kanzler in Berlin, der rumschreit, und niemand hört ihm zu, und im Herbst die Wiesn. Alles wird wieder so sein, wie es schon immer gewesen ist und vielleicht sogar noch besser.«
    Paula hatte eine Hand auf Annes Schultern gelegt, die denKopf neigte und die Wange daran schmiegte. Ihre Haut roch nach Erde und Holz. Nach Heimat. Ihr Entschluss, nach Hause zu ziehen, war vollkommen richtig.
    Die alte Bäuerin zog die Hand zurück und ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. Unter dem Tisch holte sie eine Flasche selbst gebrannten Hollerschnapses hervor, die sie auf den Tisch stellte. Anne ging zum Herd, um die Gans im Ofen umzudrehen.
    »Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als einen Tag ausschlafen zu können und nicht aus dem Haus zu müssen, um mich für irgendetwas anzustellen, selbst für das Wasser.«
    »Du und Ausschlafen! Seit ich dich kenne, bist du noch keine fünf Minuten still sitzen geblieben. Du bist immer beschäftigt gewesen, von Anfang an«, warf Paula ein.
    »So wie früher sollte es wieder sein.«
    »Ach Anne, du brauchst dir nichts vormachen. Und mir auch nicht. Das wäre nichts

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