Der erste Tod der Cass McBride
tust. Du musst davon überzeugt sein, dass ich es verdiene. Wenn ich einen derartigen ... Schaden angerichtet habe, dann ... also, ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich muss etwas über David wissen, um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte. Kannst du es mir erklären?«
Er versetzte dem Funkgerät einen Schlag, aber er antwortete nicht. Knistern. Das Weißrauschen sagte mir eine Menge.
Dann schließlich: »Ich erzähl dir das jetzt nicht, damit du dich besser fühlst, sondern damit du leidest.«
Es war mir egal, warum der Dreckskerl redete. Hauptsache, er fuhr fort. Und ich gebe dir weiterhin recht, Kyle, solange du mir etwas lieferst, was ich verwerten kann. Ich weiß, wovor ich mich fürchte. Ich muss wissen, wovor du dich fürchtest.
Kyle sagte lange nichts. Zu lange. Er benötigte einen Schubs.
»Ich will meine Nase nicht in Angelegenheiten stecken, die nur dich und David etwas angehen, okay?«
Nichts.
»Aber ich habe gehört, er hat eine Nachricht hinterlassen.«
»Allerdings, David hat eine Nachricht hinterlassen. Und genau deswegen liegst du in dieser Kiste.«
Sein Zorn flammte wieder auf, diesmal war er eiskalt. »Die Polizei hat den Zettel mitgenommen, aber man hat uns eine Kopie dagelassen. Damit wir überlegen, ob wir uns einen Reim darauf machen können. Sie hätten uns gar keine Kopie geben müssen. Jedes einzelne Wort hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Mal sehen, wie du Davids Nachricht verstehst.«
Das Funkgerät wurde mit einem Klicken ausgeschaltet. Weinte er jetzt?
Oder kämpfte er mit den Tränen?
Das Gerät wurde wieder eingeschaltet.
»Die Nachricht war an niemanden namentlich gerichtet. Er hat sie mit einem Filzstift auf ein Blatt Kopierpapier geschrieben. Schwarz. Mittlere Stärke. In sauberen Druckbuchstaben. Gut leserlich. Kein theatralisches Gekritzel - er hat die Buchstaben nicht mit seinem eigenen Blut hingeschmiert. Er hat sogar eine Sicherheitsnadel verwendet - eine Sicherheitsnadel -, um das Blatt an seiner Brust zu befestigen. Die Nadel hat sich sauber durch die Haut und etwas Fettgewebe gebohrt, ist wieder ausgetreten und dann hat er das spitze Ende in den runden Verschluss einrasten lassen. So ist David, ordentlich und gewissenhaft. Er wollte nicht, dass die Nachricht von einem Windstoß weggeweht würde.«
Das Funkgerät wurde erneut mit einem Klicken ausgeschaltet. Warum? Kyle hatte zu kämpfen. Seine Gefühle übermannten ihn und traten an die Oberfläche. Das wollte er vor mir verbergen. Schwäche.
Die Schwäche meines Feindes ist mein Vorteil. Aber ich hatte ihn schon einmal unterschätzt. Wenn ich ihn zu sehr oder zu schnell bedrängte, würde er vielleicht einfach weggehen.
Das Funkgerät schaltete sich plötzlich wieder ein:
Worte sind Zähne.
Und sie fressen mich bei lebendigem Leib auf. Verschlingt stattdessen meine Leiche.
BEN
»Tyrell, hast du irgendwas ...?« Ben bewegte seine Finger in der Luft wie Spinnenbeine.
Tyrell schüttelte den Kopf. »Nee, ich hab keine seltsamen Schwingungen gespürt. Für Insekten ist Roger zuständig.«
»Für Arachnida«, berichtigte ihn Roger.
»Gesundheit. Wie auch immer, ich hatte es nur mit lauter Typen zu tun, die abgeblitzt sind. Und mit Mädchen, die neidisch sind. Mädchen, die gern wie Cass wären. Das ist alles. An der Schule geht es sowieso völlig drunter und drüber. Erinnert ihr euch an den Selbstmord vom Dienstag? Und jetzt am Freitag die Entführung ...«
»Stimmt, das habe ich auch mitbekommen«, sagte Roger. »Alle sind deshalb ganz aufgewühlt. Allerdings sieht niemand einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen.«
»Darauf kommen wir gleich noch mal zurück.« Ben deutete mit dem Finger auf Roger. »Schieß los, was hast du?«
»Ich habe die Lehrer befragt. Von einer Englischlehrerin habe ich ein gutes Band, das du dir anhören musst. Die übrigen von Cass’ Lehrern haben alle dasselbe Bild von ihr: ehrgeizig. Sie lächelt, macht Komplimente und sagt die richtigen Dinge. Die Kollegen mit Durchblick erklären allerdings, sie fühlen sich manipuliert, hmmm, >bearbeitet<, so hat es einer der Lehrer formuliert. Aber Cass ist eine gute Schülerin, bestens organisiert, stets gut vorbereitet und pünktlich. Es gibt keine disziplinarischen Probleme. Angenehme Erscheinung, gut gekleidet. Freundlich. Blablabla. Die Art von Schülerin, der du Empfehlungen für die Uni schreibst, mit der du aber nie richtig warm wirst. Der Geschichtslehrer allerdings ...« Roger
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