Der erste Verdacht
ganze Wohnung erweckte den Eindruck, als hätten ihre Bewohner schon des längeren und ohne Probleme zusammengewohnt. Nichts deutete darauf hin, dass einer der beiden nur vorübergehend dort gewohnt hatte. Dass das Verhältnis von Philip und Joachim auch ein sexuelles gewesen war, war höchst wahrscheinlich.
In dem Text, den sie im Flugzeug gelesen hatte, stand, dass Philip eine große Anziehungskraft auf junge Frauen ausgeübt hatte, was aber noch lange nicht bedeuten musste, dass dies auf Gegenseitigkeit beruht hatte. Vielleicht hatten die Mädchen auch nur die Fassade dargestellt, hinter der sich seine Homosexualität verbergen ließ. Oder war er bisexuell gewesen? Konnte das Motiv für den Mord etwa mit dem Privatleben der Beteiligten zusammenhängen? Das Sexualleben ist bei einer Mordermittlung immer von Interesse, aber Irene wusste aus Erfahrung, dass es nicht immer so einfach ist, in dieser Beziehung die Wahrheit herauszufinden. Menschen können sich sehr gut verstellen, wenn sie etwas verbergen wollen.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke: die Haare. Die Dusche! Es konnten sich Haare des Täters im Abfluss befinden. Sie nahm die Rolle mit den Mülltüten mit in die Diele und öffnete die Tür zum Bad. Im schwachen Schein der Lampe über dem Waschbecken beugte sie sich über den Abfluss der Dusche. Enttäuschenderweise konnte sie kein einziges Haar entdecken. Ihr lädiertes rechtes Knie knackte, als sie sich wieder aufrichtete. Dieses Geräusch war jedoch nicht laut genug, um das Rasseln eines Schlüssels im Schloss der Wohnungstür zu übertönen.
KAPITEL 11
»Merci, Madame Lauenstein«, erklang eine Männerstimme.
Irene erkannte sie sofort wieder. Ein Gefühl der Erleichterung und der Wut ersetzte den entsetzlichen Schrecken, den sie noch vor einigen Sekunden empfunden hatte. Wenn es der Mann gewesen wäre, der Kajsa und sie angegriffen hatte, hätte sie sich unbewaffnet und mit verletztem rechtem Arm nur schwer verteidigen können.
Eine Frauenstimme antwortete mit einem französischen Wortschwall, der von einem scharfen »Oui! Merci!« abgeschnitten wurde.
Die Wohnungstür wurde geschlossen, und es wurde still. Irene war klar, dass Verdier sich umsah. Bald würde er das Licht ent- decken, das durch den Spalt der angelehnten Badezimmertür drang.
Als er vorsichtig die Tür öffnete, war sie bereit. Das Licht der Lampe wurde vom Lauf einer Pistole reflektiert.
»Bonjour, Monsieur Verdier«, sagte Irene.
Im Laufe des Tages hatte sie tatsächlich etwas Französisch gelernt.
Nun flog die Tür ganz auf, Inspektor Verdier hielt seine Pistole aber immer noch auf sie gerichtet.
»Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte er verbissen.
»Dieselbe Frage könnte ich Ihnen stellen«, antwortete Irene ruhig.
Ein paar lange Sekunden lieferten sich ihre Blicke ein Duell. Irene kannte seine Taktik inzwischen, Leute eiskalt niederzustarren, und betrachtete ihn daher unverwandt und mit einem leichten Lächeln. Es gelang ihm nicht, ihrem Blick standzuhalten, und er schaute zur Seite.
»Wer hat Sie reingelassen?«, fragte Irene, um die Oberhand zu behalten.
»Madame la con … die Hausmeisterin. Ich wollte mir den Tatort ansehen«, antwortete Verdier.
Ein Muskel begann, unter seinem einen Ohr zu zucken, als er die Zähne zusammenbiss. Er ließ die Pistole sinken und verstaute sie in ihrem Holster unter dem Jackett.
»Warum wollten Sie sich den Tatort ansehen?«, erkundigte sich Irene.
Verdier schwieg lange, ehe er antwortete.
»Dieser Überfall auf Ihre Kollegin und Sie ist Teil eines größeren Verbrechens«, sagte er schließlich.
»Das ist mir nichts Neues. Aber es geht um Morde, die in Schweden an schwedischen Staatsbürgern verübt wurden, und die die schwedische Polizei zu klären versucht. Die Opfer wohnten nur zufällig hier in Pa …«
»Es geht um ein anderes Verbrechen«, unterbrach sie Verdier. Ein anderes Verbrechen? Hatte die französische Polizei ebenfalls Yuppies aus der Finanzszene mit Einschüssen im Kopf gefunden?
»Kommen Sie. Setzen wir uns«, sagte Verdier und deutete in Richtung Wohnzimmer.
Sie setzten sich auf die beigen Plüschsessel. Der Franzose drehte seinen Sessel so, dass er Irene fast gegenübersaß. Vielleicht wollte er beim Gespräch auch einfach nicht zur Seite schauen müssen, aber Irene hatte den Verdacht, dass er das gewohnheitsmäßig tat. Er wollte seinen Opfern in die Augen schauen. Aber die Dinge hatten sich geändert, sie fühlte sich nicht länger als eines seiner
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