Der erste Verdacht
das Kissen berührt hatte. Vollständig angekleidet lag sie auf der Tagesdecke.
Vor der Tür stand Lucy. Sie hielt ein Tablett in den Händen. An ihrem Handgelenk baumelte eine große Tüte aus buntem Papier.
»Bitte schön, Madame. Meine Freundin hätte gern achtunddreißig Euro. Die Tabletten kosten achtzehn«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln.
Irene war erleichtert, dass sie fünfzig Euro im Portmonnee hatte. »Nehmen Sie das so lange. Ich muss erst noch Geld abheben. Erst mal herzlichen Dank«, sagte sie und meinte es tatsächlich so.
»Es eilt nicht. An der nächsten Ecke Richtung Boulevard Montparnasse befindet sich ein Geldautomat. Es sind nicht einmal hundert Meter.«
Auf der Tüte stand in geschwungenen Buchstaben »Galeries Lafayette«. Sie enthielt ein hübsches blasslila Baumwolltop und einen Baumwollslip. Ganz unten lag ein durchsichtiges Necessaire aus Plastik mit Proben für Reinigungsmilch und Hautcreme und sogar einer winzigen Probe Wimperntusche.
Erst trank sie den Kaffee, dann schluckte sie zwei Tabletten und aß ein Brot mit Camembert und Weintrauben. Anschließend stellte sie sich so lange unter die Dusche, bis das heiße Wasser ihren Blutkreislauf wieder in Schwung gebracht hatte.
Der Schmerz im Arm hatte nachgelassen und war einigermaßen erträglich, als sie ihre neuen Kleider anzog. Sie föhnte sich rasch und cremte ihr Gesicht ein. Da die Tuben französisch beschriftet waren, wählte sie auf gut Glück: War es Tag- oder Nachtcreme oder etwa die Reinigungsmilch?
Es war kein Problem, den Geldautomaten zu finden. Irene hob hundert Euro ab. Umgehend kehrte sie wieder ins Hotel zurück und beglich ihre Schulden bei Lucy.
Rothstaahls Wohnung lag fast direkt gegenüber vom Hotel Montparnasse Raspail. Als Irene unbeschadet die andere Seite des stark befahrenen Boulevards erreicht hatte, nahm sie sich vor, in Zukunft nur noch die Ampeln zu benutzen.
Irene steckte den Schlüssel ins Schloss. Gerade, als sie ihn umdrehen wollte, hielt sie inne. Wenn der Mann, der Kajsa und sie überfallen hatte, zurückgekehrt war? Nach kurzem Überlegen kam sie zu dem Schluss, dass dies recht unwahrscheinlich war. Trotzdem überfiel sie eine Art eisiger Unruhe, als sie, alle Sinne geschärft, die Tür öffnete.
Der Duft von Herrenparfüm war fast ganz verschwunden. Dass sie nicht begriffen hatte, was der starke Duft zu bedeuten hatte! Sie öffnete die Tür zur Dusche und stellte fest, dass das Necessaire weg war. Hatte der Täter daran gedacht, seine Toilettensachen mitzunehmen, oder hatte die Spurensicherung der französischen Polizei es mitgenommen? Sie ging in die Diele, um sich einen Überblick zu verschaffen. Der große Blutfleck auf der Schwelle war noch da. Ein rascher Blick in die Küche, ins Schlafzimmer und ins Wohnzimmer bestätigte ihren Verdacht: Nichts deutete darauf hin, dass die französischen Kollegen der Wohnung einen Besuch abgestattet hatten. Sie selbst hatte die Tür abgeschlossen, als der Krankenwagen eingetroffen war, um Kajsa und sie ins Krankenhaus zu transportieren. Inspektor Verdier hatte nicht um den Schlüssel gebeten. Sie hätte ihn ihm auch nicht überlassen, was er vielleicht geahnt hatte.
Die Küche mit Fenster zum Hinterhof war klein. Die Fassaden zum Hof waren schmutzig und in einem recht schlechten Zustand. Das Wichtigste war natürlich, dass das Haus vom Boulevard aus schick wirkte. In einem Schrank standen ein einfaches weißes Service für sechs Personen, gewöhnliche Wassergläser, ein Korb mit Besteck sowie einige Schüsseln. In der Speisekammer fanden sich nur unverderbliche Lebensmittel wie Reis und Pulverkaffee. Drei Töpfe und eine Pfanne bildeten das restliche Kücheninventar. Offenbar war in der Küche nie gekocht worden. Je länger Irene die Möbel betrachtete, desto überzeugter war sie, dass die Wohnung möbliert vermietet worden war. Die Einrichtung bestand aus zusammengewürfeltem Mobiliar ohne die geringste persönliche Note. Hier gab es kein modisches Design, nur eine ganz gewöhnliche Standardeinrichtung. Das passte schlecht zu dem, was Irene über Philips Glanztage bei ph.com gelesen hatte, diese Wohnung ließ sich jedenfalls in keiner Hochglanzzeitschrift vorführen. Andererseits handelte es sich ja um Joachim Rothstaahls Wohnung. Vielleicht hatte er einen anderen Geschmack.
Das Schlafzimmer sah aus wie vor einigen Stunden, als sie die Wohnung zusammen mit den Sanitätern verlassen hatte. Es lief ihr kalt den Rücken herunter, als sie
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