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Der erste Verdacht

Der erste Verdacht

Titel: Der erste Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Tursten
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Es gab ein hohles Geräusch, als der Unter- und Oberkiefer des Mannes aufeinander knallten. Treffsicher hatte sie die Kinnspitze erwischt. Er fiel der Länge nach hin und blieb regungslos liegen.
    Der Adrenalinstoß hatte sie hellwach werden lassen. Sie holte ein paar Mal tief Luft, ehe sie sich vorbeugte, um den Mann anzuschauen. Vorsichtig drehte sie ihn auf die Seite.
    Er war groß und athletisch. Sein blondes Haar wurde bereits etwas schütter. Seine starke Sonnenbräune wirkte echt. Seine Kleidung war von lässiger Eleganz, er trug Khakihosen und ein farblich dazu passendes Polohemd. Sein Jackett war aus hellbraunem Cord, die Schuhe wirkten teuer. Ein gut aussehender Mann um die vierzig, der einen sehr ordentlichen Eindruck machte. Hegte er einen Groll gegen Polizistinnen? Oder die Polizei überhaupt?
    Gerade als Irene seine Taschen untersuchen wollte, schnaufte er und öffnete die Augen. Sie stand rasch auf und trat einen Schritt zurück. Offenbar hatte der Bursche eine stärkere Kinnpartie, als sie geglaubt hatte. Er kniff die Augen zusammen und sah sie an. Seine Miene verfinsterte sich, und er langte in sein Jackett. Irene schwante nichts Gutes, und sie machte einen Satz auf die Wohnungstür zu. Glücklicherweise hatte sie sie nicht abgeschlossen und brauchte nur die Klinke hinunterzudrücken. Kaum war sie draußen, warf sie sich zur Seite.
    Die Kugel pfiff an ihrem Kinn vorbei und schlug in die gegenüberliegende Wand ein. Putzbrocken wirbelten durch die Luft. Hals über Kopf rannte sie die Treppe hinunter. Hinter sich hörte sie, wie Türen geöffnet wurden, und erregte französische Stimmen erklangen.
    Draußen auf der Straße verlangsamte sie ihr Tempo und hielt sich so nah wie möglich an der Hauswand, falls einer der Mieter aus dem Fenster schaute. Erst als sie die Kreuzung mit dem Fischrestaurant erreicht hatte, vor dem die Männer mit den Gummischürzen immer noch Austern öffneten, wagte sie es, sich unter die anderen Passanten zu mischen. Obwohl der Verkehr nicht spürbar abgenommen hatte, gelang es ihr, wohlbehalten über den Boulevard zu kommen. Sie bemühte sich, ruhig und gefasst zu wirken, als sie die Lobby betrat.
    Lucy saß vor einem Monitor an der Rezeption und unterhielt sich in rasendem Tempo auf Französisch. Sie lächelten sich rasch an, und Irene eilte zum Fahrstuhl.
    Als sie ihr Zimmer betrat, machte sie kein Licht, sondern stellte sich hinter die Gardine und schaute auf den Hauseingang, aus dem sie soeben herausgestürzt war. Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann ging hastig in Richtung Boulevard Montparnasse. Es war der Mann, der auf sie geschossen hatte.
    Wer war er?
    Sie hatte nicht die geringste Ahnung, aber irgendetwas an ihm kam ihr bekannt vor.

KAPITEL 12
    Inspektor Verdier rief Punkt halb acht an. Auf diese Zeit hatte Irene auch den Wecker in ihrem Handy eingestellt. Es dauerte daher eine ganze Weile, bis sie begriff, dass es nicht genügte, einfach das Wecksignal abzustellen, sondern dass sie auch antworten musste.
    Er sagte nicht einmal seinen Namen, sondern fragte nur:
    »Haben Sie gut geschlafen, Madame Huss?«
    »Ja, danke. Die französischen Tabletten wirken sehr gut«, antwortete Irene.
    Sie versuchte, munterer zu klingen, als sie sich fühlte.
    »Es ist gestern Abend etwas vorgefallen … aber das wissen Sie vermutlich bereits?«
    »Nein. Was denn?«
    Irene war froh, dass sie kein Bildtelefon besaß. Verdier wäre sicher misstrauisch geworden, wenn er ihr spöttisches Lächeln gesehen hätte.
    Einige Sekunden war es still, dann sagte er: »Ich komme zu Ihrem Hotel.«
    »Gut. Ich bin in einer halben Stunde unten im Frühstückszimmer«, antwortete Irene.
    Eine große Kanne Kaffee, warme Croissants, verschiedene französische Käsesorten und ein weich gekochtes Ei verbesserten ihre Laune erheblich. Sie hatte die ganze Nacht wie ein Stein geschlafen und weder von unfreundlichen französischen Polizisten noch von schießenden, heimtückischen Mördern geträumt. Ihr Ellbogen hatte ihr beim Erwachen wehgetan, fühlte sich jedoch bedeutend besser an als am Vortag. Eine Tablette am Morgen müsste reichen, denn das starke Schmerzmittel machte träge; nahm sie zwei, dann schlief sie ein.
    Ihr französischer Kollege kam genau zur dritten Tasse. Er war genauso gekleidet wie am Vortag und hatte sich auch im Übrigen nicht verändert. Möglicherweise sah er noch finsterer aus. Er setzte sich ihr gegenüber. Wie immer versuchte er, einen direkten Blickkontakt herzustellen, um ihre

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