Der erste Verdacht
die eingetretene Tür zur Kleiderkammer betrachtete. Sie gab sich einen Ruck, trat ein und machte Licht. Offenbar hatten Philip Bergman und Joachim Rothstaahl je eine Hälfte der Kleiderkammer gehabt. Da Philip bedeutend größer und athletischer als Joachim gewesen war, waren seine Kleider ein paar Nummern größer. Alles hing ordentlich auf Bügeln, auch die Kleider von Joachim auf der anderen Seite. Darunter standen die Schuhe in zwei Reihen hintereinander. Irene konnte es nicht lassen, sie zu zählen. Philip hatte siebenundvierzig Paar besessen, Joachim nur zweiundzwanzig. Irene überschlug rasch in Gedanken und kam zu dem Ergebnis, dass sie selbst nur neun Paar besaß, einschließlich ihrer Gummistiefel und der Seglerschuhe, die sie gerade anhatte.
Die Kleiderschränke besaßen Fächer und Schubladen, in denen nicht dieselbe Ordnung herrschte wie in der Kleiderkammer. Unterhosen, T-Shirts und Strümpfe lagen unordentlich durcheinander.
Das Bett konnte von Interesse sein. Falls ihr Angreifer in der Wohnung übernachtet hatte, musste er Spuren hinterlassen haben. Irene knipste die Halogenleuchten am Kopfende des Bettes an und richtete sie auf den Überwurf. Nach kurzer Zeit entdeckte sie ein paar Haare dort, wo sie auch hingehörten, nämlich auf einem Kissen. Irene ging in die Küche und fand unter der Spüle eine Rolle dünne weiße Mülltüten. Sie nahm die Rolle ins Schlafzimmer mit. Da sie keine Handschuhe dabei hatte, zog sie sich eine Tüte über die linke Hand. Die rechte wagte sie noch nicht zu benutzen. Jede Bewegung der Finger verursachte unerträgliche Schmerzen im Ellbogen. Es war umständlich und anstrengend, die Haare aufzulesen und in eine andere Tüte zu legen, aber es ging. Als sie fertig war, war sie zufrieden, wusste aber, dass sie noch viel Arbeit vor sich hatte. Vorsichtig nahm sie die Tagesdecke vom Bett und wiederholte die Prozedur mit den beiden Kopfkissen, denn auch dort fand sie etliche Haare. Sie legte alle in dieselbe Tüte. Malm und Åhlén durften sie später sortieren, das würde ihnen keine große Mühe bereiten. Joachims und Philips Haare konnte man rasch nachweisen. Falls sich Haare einer dritten Person fanden, konnte es interessant werden. Nicht unwahrscheinlich, dass diese vom Angreifer stammten. Es bestand natürlich auch die Möglichkeit, dass sie von einer unschuldigen Bettgenossin eines der beiden Mieter stammten. Irene ahnte jedoch, dass es sich nicht so verhielt. Sorgfältig knotete sie die dünne Mülltüte zu und verstaute sie in ihrem Rucksack.
In einer Ecke stand ein einfacher Schreibtisch mit einem Laserdrucker und etlichen Kabeln. Ein Computer war nicht vorhanden. Irene zog die Schubladen heraus, fand aber nichts von Interesse. An der Wand über dem Schreibtisch hing ein Bord mit ein paar Ordnern. Auf einem stand »Wohnung«. Irene nahm ihn herunter und blätterte. Den Mietvertrag hatte Joachim Rothstaahl am 1. April 2001 unterschrieben. Er hatte die Wohnung komplett möbliert für eintausendfünfhundert Euro im Monat gemietet. Irene rechnete rasch im Kopf nach. Er hatte also vierzehntausend Kronen für eine Wohnung bezahlt, die laut Mietvertrag nur neunundsechzig Quadratmeter groß war. Das war vermutlich ein Grund mehr gewesen, sich einen Untermieter zuzulegen.
Der nächste Ordner, der ihr Interesse weckte, trug die Aufschrift »EuroFond« in goldenen Lettern. Er enthielt ein paar umfangreiche Broschüren auf Büttenpapier. Sie enthielten Diagramme, die einen seriösen Eindruck erweckten, und schöne Fotos von Paris mit schwedischem, englischem und französischem Text. Dem schwedischen Text entnahm Irene, dass sich die Broschüre an Unternehmen und Privatpersonen wandte, die Geld in einen Aktienfond mit einer sehr hohen Rendite investieren wollten. »Garantiert der beste Fond auf dem Markt mit der höchsten Rendite«, versicherte die Broschüre. Irene verstaute den Ordner in ihrem Rucksack.
Der einzige neuere Einrichtungsgegenstand im Wohnzimmer war ein funkelnagelneuer Großbildfernseher. Irenes Blick fiel auf ein Regal mit amerikanischen Action- und Horrorvideos. Titel wie »Das Schweigen der Lämmer« und »Seven« hatte sie schon mal gehört. Als sie die Videos aus dem Regal nahm, sah sie, dass dahinter noch weitere mit Titeln wie »Loveboy« und »Beach Boy Sex« lagen, auf denen schöne, muskulöse Männer in gewagten Positionen abgebildet waren. Sie wunderte sich nicht, sondern fand nur bestätigt, was sie bereits in Göteborg vermutet hatte.
Die
Weitere Kostenlose Bücher