Der erste Verdacht
Schweden verschwanden, ohne noch einmal mit ihm gesprochen zu haben. Aber wahrscheinlich tat sie ihm Unrecht. Er wollte sicher nur nett und hilfsbereit sein.
»In dieser Umgebung kann sie sich sicher auch leichter an das Vorgefallene erinnern und daran, wie der Mann aussah, der sie niedergeschlagen hat«, fuhr Verdier fort.
Mit ausdrucksloser Miene fragte er Irene: »Sie wissen nicht zufälligerweise, wer Sie angegriffen hat?«
Irene seufzte laut und würdigte ihn keiner Antwort. Dieser Mann war nicht nett und freundlich, sondern krankhaft paranoid.
»Ich bin müde und muss meine Schmerztabletten nehmen«, sagte sie und deutete auf den unbrauchbaren Arm, der in der Schlinge hing.
Sie wäre den Franzosen gern losgeworden, denn es gab da noch etwas, das sie noch nicht gründlich genug untersucht hatte.
Sie wollte Verdier aber auch nicht alleine in der Wohnung zurücklassen, da auch ihm eingefallen sein konnte, wonach es sich noch zu suchen lohnte. Sie war erleichtert, als er in einer sehr französischen Geste einfach nur mit den Achseln zuckte.
»Hier findet sich nichts mehr«, sagte er.
Sie verließen die Wohnung, und Irene schloss sorgfältig ab. Schweigend gingen sie die Treppe hinunter. Höflich hielt ihr Verdier die schwere Tür auf, und sie traten in den lauen Abend. Ein schwacher Wind wehte den Boulevard entlang und brachte die Düfte aus den umliegenden Restaurants mit. Im Nachbarhaus befand sich ein schickes Fischrestaurant. Schalentiere aller Art waren vor dem Haus in rostfreien Auslagen auf Eis zu besichtigen. Zwei Männer mit Gummischürzen öffneten Austern am laufenden Band. Die Kellner liefen hin und her und holten Hummer, Krabben und Austern, die sie mit Eis auf große Platten legten. Plötzlich wurde Irene hungrig, obwohl ihr der Sinn wirklich nicht nach Austern stand, die sie einmal in ihrem Leben gegessen hatte, was vollkommen ausreichte. Beim Hinunterschlucken der Auster hatte sie sich an die Folgen eines starken Schnupfens erinnert gefühlt. Außerdem verspürte sie nicht die geringste Lust, zusammen mit Verdier zu essen.
»Gute Nacht. Vielen Dank, dass Sie mich morgen abholen«, sagte Irene. Es gelang ihr, sich zu einem Lächeln zu zwingen.
»Bonne nuit, Madame.«
Zum ersten Mal glaubte Irene, die Andeutung eines Lächelns in seinem schmalen Gesicht zu entdecken, aber vielleicht irrte sie sich ja auch.
Ihre Wege trennten sich, und Irene beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Verdier auf den grauen Mégane zuging. Sie hielt auf den Zebrastreifen zu. Auf der anderen Seite des großen Platzes, auf dem mehrere Boulevards zusammenliefen, sah sie das Schild eines Pizza Hut. Gehorsam überquerte sie die Straße an einer Ampel und betrat das Lokal. Sie bestellte eine große Pizza, eine Cola und einen Salat. Das Lokal war voll junger Leute, aber es gelang ihr, einen Platz am Fenster zu ergattern. Die Pizza schmeckte herrlich, und eine Weile lang vergaß sie fast die Schmerzen im Arm. Draußen pulsierten Licht, Bewegung, Menschen und Fahrzeuge in einem nie versiegenden Strom vorbei.
Um halb zehn war es soweit. Sie ging zum Boulevard Raspail 207 zurück und sah sich dabei die ganze Zeit über verstohlen um – es hätte sie nicht erstaunt, wenn Verdier plötzlich wieder aufgetaucht wäre.
Unbehelligt gelangte sie zur Wohnung und steckte den Schlüssel ins Schloss. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt und spähte in die dunkle Diele. Die Luft schien rein zu sein. Leise trat sie über die Schwelle und schloss die Tür hinter sich. Sie tastete den Türrahmen entlang, fand den Lichtschalter und machte die Deckenlampe an.
Vielleicht hatte sie sich an die verschiedenen Gerüche in Rothstaahls Wohnung gewöhnt, denn es dauerte ein paar Sekunden, bis ihr aufging, dass der Duft nach Herrenparfüm wieder durchdringender war als noch vor einer Stunde, als sie die Wohnung verlassen hatte. Jetzt galt es, sich auf tausendmal geübte Reflexe zu verlassen.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich die Badezimmertür öffnete und ein Mann auf sie zustürzte. Sie drehte sich ein wenig von ihm weg, führte den Fuß mit einer kreisenden Bewegung von links nach rechts und trat nach hinten. Bei einem Ura- mawashi-geri tritt die Ferse fast mit der Kraft eines Pferdes. Der Mann hatte nichts dergleichen erwartet, und Irene traf ihn genau in die Magengrube. Er klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Als er sein Kinn vorstreckte, setzte Irene einen Yoko-geri nach. Sie hob den Fuß in Kniehöhe und trat zur Seite.
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