Der erste Verdacht
Couchtisch und hob den Zettel vorsichtig an einer Ecke an. Sie schüttelte ihn vorsichtig, um ihn aufzufalten. Es handelte sich um ein kariertes Blatt aus einem Spiralblock. Mit blauem Filzstift stand darauf:
»ALLES IN ORDNUNG. ICH LASSE VON MIR HÖREN. THOMAS«
Die Mitteilung prangte mit großen Druckbuchstaben in der Mitte des Blatts. Zuunterst in der Schachtel lag eine Brille mit runden Gläsern. Irene fasste sie nicht an.
»Ist das Thomas’ Brille?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
Marianne nickte. Es hatte den Anschein, als habe sie der Beschluss, Irene die Schachtel zu zeigen, mit großer Ruhe erfüllt.
»Wann kam das Päckchen?«
»Genau eine Woche nach seinem Verschwinden. Wir hatten uns bereits Sorgen gemacht, weil wir so lange nichts von ihm gehört hatten. Dann kam das hier. Antonio glaubte, dass sich Thomas … für ein Weilchen aus dem Staub gemacht hatte, um all diesen falschen Anschuldigungen zu entfliehen. Er brauchte Zeit, um Beweise für seine Unschuld zusammenzutragen.«
Bei diesem Satz senkte Marianne ihren Blick, und Irene begriff, dass sie zum ersten Mal eine bewusste Lüge ausgesprochen hatte. Natürlich hatten die Eltern geglaubt, dass die Anschuldigungen gegen Thomas berechtigt gewesen waren und er deswegen gute Gründe besessen hatte unterzutauchen. Sie hatten gewusst, dass er nicht zum ersten Mal an einem Wirtschaftsdelikt beteiligt gewesen war. In London hatte er noch beizeiten den Absprung von Pundfix geschafft. Was ph.com anging, wäre er vielleicht nicht so ungeschoren davongekommen.
»Kam die Schachtel mit der Post?«, fragte Irene.
»Ja. In einem gefütterten Umschlag.«
»Haben Sie ihn aufbewahrt?«
»Nein. Leider nicht.«
»Können Sie sich erinnern, wo er abgestempelt war?«
»Ja, in Göteborg.«
Was möglicherweise darauf hindeuten konnte, dass sich der Mörder in Göteborg aufhielt, aber das war alles andere als sicher.
»Kam Thomas auch ohne Brille zurecht?«, fragte Irene.
»Nein. Er sah sehr schlecht.«
»Und trotzdem schickte er seine Brille, die er so dringend benötigte. Fanden Sie das nicht merkwürdig?«
Marianne ließ ihren Blick unruhig hin- und herschweifen. Es war ihr anzusehen, dass sie sich überlegte, was sie sagen und was sie verschweigen sollte. Nach einer Weile presste sie ihre Lippen zusammen und gab sich einen Ruck: »Antonio sagte … dass es wahrscheinlich ein Zeichen sei. Ein geheimes Zeichen. Er glaubte, Thomas habe uns mitteilen wollen, dass er sein Aussehen verändert habe, was er uns natürlich nicht schreiben konnte, wir aber dennoch verstehen würden.«
»Natürlich haben wir das verstanden. Schließlich sind wir seine Eltern!«, peitschte eine Stimme durchs Zimmer.
Irene und Marianne zuckten zusammen. Sie hatten beide Antonio Bonetti nicht kommen hören.
»Ich … ich versuchte gerade zu erklären, weshalb wir glaubten, Thomas … sei noch am Leben«, piepste die stattliche Frau verschreckt.
Ihr Mann stürmte auf seinen extra hohen Absätzen wütend über das Parkett. Er schenkte seiner Frau keine Beachtung, sondern starrte Irene an. Sein durchdringender Blick zeitigte jedoch nicht die erhoffte Wirkung. Irene erhob sich und erwiderte ihn gelassen. Um ihr weiterhin in die Augen sehen zu können, musste er den Kopf zurückbeugen.
»Gut, dass Sie da sind. Da gibt es etwas, das ich Ihnen beiden mitteilen muss. Uns liegt inzwischen der vollständige Obduktionsbericht vor, der ein merkwürdiges, unbehagliches Detail enthält«, sagte Irene.
KAPITEL 17
Der erste Tag im Oktober begann mit einem strahlend schönen Morgen. Es war nur ein paar Grade über Null, als die Sonne am Horizont aufging, aber im Verlauf des Tages würde es sicher wärmer werden. Hatten sie Glück, dann würden sie noch ein paar Tage lang einen Altweibersommer genießen dürfen. Oder sprach man vom Goldenen Oktober? Irene war sich nicht sicher, beschloss aber, die Sache nicht weiter zu vertiefen, sondern das gute Wetter einfach zu genießen.
Sie parkte ihren Wagen vor dem Präsidium und nahm ihren Rucksack mit. Darin lag eine Plastiktüte mit der braunen Pappschachtel, die Thomas Bonettis kurzen Brief und seine Brille enthielt. Die Eltern hatten erklärt, sie seien überzeugt davon, dass Thomas selbst die Mitteilung geschrieben habe. Sie hatten Mühe gehabt, andere Schriftproben von ihm zum Vergleich zu finden. Laut den Eltern war Thomas kein fleißiger Briefeschreiber gewesen, sondern hatte telefoniert oder E-Mails geschickt. Nach
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