Der erste Verdacht
langem Suchen hatten sie schließlich einen Geburtstagsgruß an Marianne gefunden. Eine Ansichtskarte der Freiheitsstatue, die »NY 1999-04-03« datiert war. Thomas hatte auch auf der Karte mit großen Druckbuchstaben geschrieben. Irene fand nicht, dass sie jenen Buchstaben, aus denen die Mitteilung in der Pappschachtel zusammengesetzt war, sonderlich glichen, aber sie war in dieser Hinsicht keine Expertin. Auf der Rückseite stand mit schwarzem Kugelschreiber:
HERZLICHE GLÜCKWÜNSCHE, MAMA!
HOFFENTLICH KOMMT DIE KARTE RECHTZEITIG ZU DEINEM GEBURTSTAG AN. HIER IST ES SUPER. AUCH STRESSIG, VIELE BESPRECHUNGEN, ABER ALLES SCHEINT SICH PLANGEMÄSS ZU ENTWICKELN.
HUGS
THOMAS
Irene hatte die Karte in die Plastiktüte gelegt. Sie fand in der schmalen Schachtel keinen Platz mehr. Dort lag eine von Antonio Bonettis Visitenkarten. Sowohl Vater als auch Mutter hatten sich darauf mit ihren Fingerabdrücken verewigt, was wunderbares Material für die Spurensicherung abgab. Was der Anwalt wohl gesagt hätte, wenn er gewusst hätte, dass seine Abdrücke bereits vor einigen Tagen registriert worden waren?
Antonio Bonettis Zorn war rasch verraucht, als Irene von den abgetrennten und verschwundenen Fingern erzählt hatte. Die Eltern waren natürlich sehr erschüttert gewesen. Sie hatten sich nicht erklären können, warum jemand ihrem Sohn vier Finger hätte abhacken wollen. Irene hatte eine schwache Hoffnung gehegt, dass sie vielleicht eine Erklärung oder zumindest eine Hypothese haben würden. Das war nicht der Fall gewesen. Das Rätsel blieb also weiterhin ungelöst.
Irene schaute im Labor der Spurensicherung vorbei und gab Svante Malm die Plastiktüte mit der Schachtel und der Visitenkarte. In einem Anfall von Energie erklomm sie die Treppen zum Dezernat. Das gute Wetter machte sie munter und fröhlich. Auf der letzten Stufe wäre sie fast mit Fredrik Stridh zusammengestoßen, der raschen Schrittes den Korridor entlangkam.
»Hoppla!«, rief Irene.
»Selber hoppla. Ich habe es eilig. Rothstaahls Vater hat soeben vollkommen hysterisch angerufen. Er wollte gerade die Tiefkühltruhe im Keller des Sommerhauses abtauen, das nun vermietet werden soll. Gestern Abend glaubten die Eltern, die Tiefkühltruhe sei leer, aber heute Morgen entdeckte Rothstaahls Mutter ein Röhrchen, in dem einmal Brausetabletten waren. Sie glaubte, es sei leer. Rate mal, was da drin war?«
»Keine Ahnung. Kokain?«
»Falsch. Ein Finger.«
Der Kommissar hatte die Morgenbesprechung von halb acht auf elf Uhr verschoben. Zur anberaumten Zeit saß die ganze Fahndungsgruppe im Konferenzzimmer. Fredrik Stridh hatte das Röhrchen mit seinem makabren Inhalt in Joachim Rothstaahls Haus abgeholt und zur Pathologie gebracht. Selbst Frau Professor Stridner habe gestaunt, berichtete er, was jedoch für Andersson nur ein schwacher Trost war. Finster schaute er sein Fußvolk an.
»Irgendein Schwein erlaubt sich da einen Spaß mit uns«, sagte er dumpf.
Niemand widersprach.
»Wir können vermutlich mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass es sich um Thomas Bonettis Finger handelt. Jedenfalls um einen davon«, sagte Birgitta.
»Und wo sind die anderen drei?«, wollte Jonny wissen.
»Darüber sollten sich durchaus Vermutungen anstellen lassen. Möglich wäre natürlich, dass Joachim alle vier in seinem Besitz hatte. Aber dem scheint nicht so zu sein, schließlich haben wir nur den einen bei ihm gefunden«, meinte Birgitta nachdenklich.
»Und wenn ihn jemand anderes dorthin gelegt hat?«, unterbrach sie Jonny.
»Diese Möglichkeit besteht natürlich. Nach dem Mord an Joachim und Philip könnte der Mörder natürlich in den Keller gegangen sein und das Röhrchen mit dem Finger in die Tiefkühltruhe gelegt haben«, stimmte Birgitta ihm zu.
»Seine Eltern sagen, das Röhrchen habe in einer dicken Schneeschicht gelegen. Offenbar hatte Joachim die Tiefkühltruhe jahrelang nicht abgetaut. Wahrscheinlich haben sie das Röhrchen deswegen anfangs übersehen. Erst als der Schnee größtenteils geschmolzen war, fanden sie es«, informierte sie Fredrik.
»In einer Tiefkühltruhe spricht man doch wohl nicht von Schnee«, wandte Jonny ein.
»Das ist doch jetzt wirklich egal«, polterte Andersson.
»Weiter im Text.«
Sogar Jonny begriff, dass es besser war, seinen Chef in seiner augenblicklichen Verfassung nicht zu reizen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und brummte vor sich hin. Andersson sah Birgitta an und sagte: »Weiter.«
»Wenn wir davon
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