Der erste Verdacht
ihnen wirklich treue Dienste geleistet. Aber auch er konnte nicht ewig rollen.
In letzter Sekunde gelang es ihr durch eine Vollbremsung, einen Auffahrunfall zu vermeiden. Ein paar Autos weiter vorne lief ein kleiner Junge über die Straße. Wie durch ein Wunder war nichts passiert, und der Junge kam heil über die Straße. Es war aber knapp gewesen. Irene spürte, wie ihr Herz schneller schlug, und sie zwang sich dazu, sich voll und ganz auf den Verkehr zu konzentrieren. Es war gefährlich, sich beim Autofahren zu entspannen, obwohl ihr klar war, dass sie dazu ohnehin nur selten Gelegenheit hatte, viel zu selten.
Zu Irenes großer Freude war Marianne Bonetti allein zu Hause. Sie hatte nach wie vor verweinte Augen, und Irene war klar, dass sie aufrichtig um ihren Sohn trauerte, obwohl er – aus natürlichen Gründen – seit drei Jahren kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hatte. Es war wohl so, wie sie bei ihrem letzten Besuch gesagt hatte: Jetzt hatten sich ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Gleichzeitig half ihr die endgültige Gewissheit über seinen Tod sicherlich bei der Bewältigung ihrer Trauer. Obwohl die Umstände seines Todes keinerlei Trost boten. Die Eltern wussten noch nicht, dass der Leiche vier Finger fehlten. Irene war klar, dass es allmählich an der Zeit war, sie darüber zu informieren. Dieses makabere Detail würde sicher früher oder später in einer Zeitung auftauchen, dem Informanten ein hübsches Sümmchen einbringen und die Auflage steigern. In dieser Hinsicht gab sie sich keinerlei Illusionen hin. Es wäre also von Vorteil, die Eltern auf die Neuigkeit vorzubereiten, aber Irene wollte dies nicht in Angriff nehmen, solange die Mutter allein im Haus war. Das musste warten, bis ihr Mann zugegen war.
Marianne Bonetti hatte ihr dunkelblaues Kostüm gegen ein nougatbraunes ausgetauscht, im Übrigen sah sie aus wie bei Irenes erstem Besuch.
Wie beim vorigen Mal wurde Irene ins Wohnzimmer geleitet. Auf dem Couchtisch stand Teegeschirr für zwei Personen auf einem Tablett. Die Tassen waren aus dünnem chinesischem Porzellan, Teekanne und Zuckerschale aus Silber. Der dunkle Schokoladenkuchen auf einem Teller aus Bleikristall war in dicke Scheiben geschnitten und duftete frischgebacken und verführerisch.
»Ich habe die Milch vergessen!«, rief Marianne Bonetti und schlug die Hände zusammen, wobei alle ihre Brillanten funkelten.
»Danke, ich nehme keine«, sagte Irene.
»Gut. Ich trinke auch keine Milch, ich bin allergisch dagegen.« Sie stellte die Tassen und die Kuchenplatte auf den Tisch.
Schwer atmend beugte sie sich dann vor und goss Irene ein.
Eine Weile sprachen sie über alltägliche Dinge, und Irene ließ sich den Kuchen schmecken. Sie wusste, dass es Marianne Bonetti wichtig war, ihrem Treffen den Anschein eines gewöhnlichen nachmittäglichen Kaffeetrinkens zu geben. Als Fahnderin war ihr das über die Jahre schon mehrfach aufgefallen. Die Polizei wurde wie ein geladener Gast behandelt. Oft waren es ältere Damen, die sie auf diese Art empfingen. Dass auch die Anwaltsgattin mit den traurigen Augen sich so verhielt, legte den Verdacht nahe, dass sie sehr einsam war.
Als sie das zweite Stück Kuchen mit einer zweiten Tasse Tee hinuntergespült hatte, entschloss sich Irene, ihr eigentliches Anliegen vorzubringen. Vorsichtig sagte sie: »Wie ich schon am Telefon sagte, würde ich gerne bestimmte Dinge mit Ihnen besprechen.«
Marianne bedeutete ihr mit ernstem Nicken, dass sie das verstanden habe.
»Wir versuchen uns ein genaueres Bild von dem letzten Tag zu machen, an dem Thomas noch lebte, und auch die Zeiten einzugrenzen. Ich habe alle Zeugenaussagen, die vor drei Jahren protokolliert wurden, noch einmal genauestens durchgelesen. Bestimmte Dinge sind noch etwas vage, und einiges wird in den Ermittlungsunterlagen überhaupt nicht angesprochen. Versuchen Sie sich an den Tag zu erinnern, an dem Thomas nach Styrsö wollte. Haben Sie ihn an diesem Tag gesehen?«
»Ja. Er kam gegen halb sechs hierher und holte sich Lebensmittel und ein paar Flaschen Wein. Er lieh sich auch meine Stiefel. Die von Antonio waren zu klein.«
»Sagte er bei dieser Gelegenheit, dass er nach Styrsö wolle?«
»Ja. Ich fragte, warum, und er erwiderte, er müsse in aller Ruhe über einige Sachen nachdenken. Das war verständlich. Diese grässlichen Menschen Sanna Kaegler und Philip Bergman versuchten, Thomas alles in die Schuhe zu schieben! In Wahrheit hatte er sie mehrfach darüber
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