Der erste Weltkrieg
Gründen, die nicht zuletzt auch mit nie gelösten Spannungen zwischen Ungarn und Österreich innerhalb der Doppelmonarchie zusammenhingen, war die Habsburger Armee nicht nur schlecht ausgerüstet, sondern hatte auch nie mehr als 29 % der zur Verfügung stehenden Rekrutenbevölkerung ausgebildet. Und von denen, die 1914 gerade dienten, waren wichtige Einheiten für den Sommer auf Urlaub geschickt worden, um in ihren Heimatregionen bei der Einbringung der Ernte mitzuhelfen. Sie vorzeitig zurückzurufen, hätte die Russen und Franzosen misstrauisch gemacht und die Lokalisierungsstrategie unterminiert, auf die man sich mit Berlin geeinigt hatte.
Die zweite Fehlrechnung, die eine schnelle Aktion gegen Belgrad verhinderte, hing mit der Opposition Tiszas gegen ein unannehmbar hartes Ultimatum zusammen. Seiner Meinung nach sollte Wien den Serben erst eine Liste von Forderungen präsentieren und nur ein Ultimatum stellen, wenn Belgrad eine Erfüllung verweigerte. Er warnte auch vor einer völligen Auflösung Serbiens. Einer Annexion des Landes könne er nie zustimmen, und auch Russland werde eine solche nicht tolerieren. Obwohl seine Kollegen mit diesen Vorschlägen überhaupt nicht übereinstimmten, gingen die Verhandlungen mit Tisza, wie Bethmann ziemlich alarmiert am 17. Juli aus Wien erfuhr, weiter. Erst zwei Tage später verabschiedete der Ministerrat den Entwurf des Ultimatums. Zugleich einigte man sich darauf, es am 23. Juli in Belgrad zu überreichen. Diese erneute Verzögerung war ein weiterer Beweis dafür, wie unsystematisch man Anfang Juli vorgegangen war.
Nach der Überraschung mit dem Ernteurlaub und den Schwierigkeiten mit Tisza gab es noch eine weitere Entdeckung, die bei sorgfältigerer Planung ebenfalls hätte einkalkuliert werden können: Man hatte nicht bedacht, dass der französischePräsident Raymond Poincaré vom 20.–22. Juli zu einem lange angekündigten Staatsbesuch in St. Petersburg sein würde. Wurde das Ultimatum vor seiner Rückkehr publik, war damit zu rechnen, dass die beiden Bündnispartner ihre Reaktion auf höchster Ebene gleich persönlich würden absprechen können. Um dies zu verhindern, wartete man in Wien mit der Übergabe, bis Poincaré nach Ende seines Staatsbesuchs am 22. Juli wieder in See gestochen war.
Hätte man das russisch-französische Treffen rechtzeitig in das Kalkül einbezogen, wäre noch ein weiteres Problem sofort deutlich geworden: Wien und Berlin waren so auf St. Petersburg als den Protektor der Serben fixiert, dass man die französische Reaktion auf ein Eingreifen Russlands noch weniger durchdachte. Man nahm nur an, dass Paris ebenfalls nicht kriegsbereit sei und auf eine Begrenzung der Krise auf dem Balkan hinarbeiten würde. Mochte man das Risiko eines russischen Eingreifens auch erkennen, in Berlin übersah man, dass Russland und Frankreich als Bündnispartner auch durch die moltkeschen Operationspläne untrennbar miteinander verbunden worden waren: Schon Jahre zuvor hatte der Generalstabschef einen bis dahin bestehenden deutschen Aufmarschplan gegen Russland allein zu den Akten gelegt.
Stattdessen hatte er einen von seinem Vorgänger, Alfred Graf von Schlieffen, entworfenen Plan weiterentwickelt, der selbst bei einer Kriegsgefahr im Osten den Angriff auf Frankreich vorsah. Mit anderen Worten, im Falle eines Konflikts mit dem Zarenreich sollte als Erstes dessen Bündnispartner angegriffen werden. Nach einem erwarteten schnellen Sieg im Westen sollten die deutschen Truppen dann nach Osten geworfen werden, um dort in einer zweiten Riesenoperation die Russen zu besiegen. Das Kalkül dabei war, dass die langsame Mobilisierung der russischen «Dampfwalze» im Osten den Deutschen eine derartige Zwei-Phasen-Operation ermöglichen würde.
Dem Generalstab war nicht verborgen geblieben, dass eine solche Zwei-Phasen-Operation große Risiken in sich barg. Was würde geschehen, wenn dem Angriff auf Frankreich der schnelle Erfolg versagt bliebe? Um diesen abzusichern, hatte schonSchlieffen eine große Umfassungsoperation durch Belgien vorgesehen. Der Angriff auf Frankreich sollte über Belgien vorgetragen werden. Nach der kurzfristigen Besiegung des kleinen Landes sollten dann die deutschen Armeen von Norden her bei relativ flachem und im Gegensatz zu Französisch-Lothringen im Osten unbefestigtem Terrain direkt auf Paris vorstoßen.
Diese Strategie musste aber die Briten auf den Plan rufen, die 1832 den Fortbestand eines neutralen Belgiens garantiert hatten. Auch
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