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Der erste Weltkrieg

Der erste Weltkrieg

Titel: Der erste Weltkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Berghahn
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die Möglichkeit dieser durch den Schlieffen-Plan ausgelösten Kettenreaktion hatte man Anfang Juli in Berlin nicht richtig bedacht. Wie einer der militärischen Berater des Kaisers am 6. Juli, dem Tage nach der Hoyos-Mission, berichtete, hatte der Monarch von England überhaupt nicht gesprochen. Auch Moltke scheint eine mögliche Intervention Großbritanniens bei den diversen Verfeinerungen seines Westaufmarschplans nicht ernst genommen zu haben. Die Kaiserliche Marine, die sich bei einem Weltkrieg um die Stärke der Royal Navy Sorgen machen musste, war nicht so unbekümmert. Ihre Sorgen erhöhten sich, als England Mitte Juli in den Gewässern um die britischen Inseln eine Probemobilmachungsübung durchführte, die mit einer Flottenparade vor Spithead endete.
    Diese unterschiedlichen Einschätzungen des möglichen Verhaltens der Engländer traten noch am 20. Juli in einem Gespräch des Konteradmirals Paul Behncke mit Jagow hervor. Ersterer meinte bei dieser Gelegenheit, «England würde mit den andern gegen uns losschlagen. Das sei auch vom rein militärischen Standpunkt die an sich richtige Handlungsweise.» Ohne die belgische Frage zu erwähnen, äußerte Jagow die Ansicht, «dass England zunächst abwarten und sein Verhalten vom Gang der Dinge abhängig machen würde». Offenbar in der Absicht, die Briten darin zu bestärken, dachte er des Weiteren daran, London gegenüber «die Drohung auszusprechen, wir würden Holland besetzen, wenn England sich gegen uns erklärte». So hinterlässt auch dieses Dokument den Eindruck, dass die ursprüngliche Lokalisierungsstrategie 14 Tage später auf viele unvorhergesehene Untiefen gestoßen und die Entwicklung den Diplomaten um Bethmann aus dem Ruder gelaufen war.
    Das zeigte sich in aller Deutlichkeit spätestens bald nach der Übergabe des Wiener Ultimatums in Belgrad. Schon am 25. Juli wurde klar, dass Russland eine Zerstörung Serbiens nicht zulassen würde. Besonders Außenminister Sergei Sasonow drängte auf eine klare Antwort, während der Zar die Versicherung seiner Generäle, die Armee sei kriegsbreit, bis auf weiteres mit der Hoffnung verband, dass sich eine friedliche Lösung der Krise finden werde. Deren Ausweitung auf die Großmächte wurde indessen zur Gewissheit, als Österreich-Ungarn am 28. Juli den Angriff auf Serbien unter dem Vorwand einleitete, dass Belgrad das Ultimatum nicht erfüllt habe. Inzwischen waren zusammen mit Wilhelm II. auch Moltke und die anderen militärischen Berater aus dem Urlaub zurückgekehrt. Sie stellten sofort fest, dass Bethmanns Plan vom 5. Juli fehlgeschlagen war. Seither drängten sie auf jene «große» Lösung des Konflikts – die Abrechnung mit Russland und Frankreich –, die sie schon vor dem Attentat für unvermeidlich erachtet und am 5. Juli nur zögerlich auf Eis gelegt hatten.
    Zwar bemühte sich Bethmann noch verzweifelt, einen Weltkrieg, der jetzt bevorstand, durch diplomatische Manöver zu verhindern. Aber selbst wenn seine diesbezüglichen Initiativen wirklich ernst gemeint waren, er war infolge des Versagens seines eigenen Rezepts im Kreise der Entscheidungsträger um Wilhelm II. zu geschwächt, um mit seiner Stimme noch viel Gewicht zu haben. Stattdessen sah er es jetzt als seine Aufgabe an, wenigstens dafür zu sorgen, dass die deutsche Bevölkerung hinter den Entscheidungen des Monarchen stand. Das war deshalb nicht sicher, weil nach der Übergabe des Ultimatums nicht nur im Westen, sondern auch in Deutschland der Eindruck entstanden war, als säßen die eigentlichen Kriegstreiber in Wien. Folglich kam es in diversen deutschen Städten zu Friedensdemonstrationen gegen die Habsburger, an denen sich die örtlichen Arbeiterbewegungen beteiligten.
    Über diese Proteste mit Recht besorgt, begann die Reichsleitung unter Bethmann und dem Staatssekretär des Innern Clemens von Delbrück Gespräche mit den Führern des rechten Flügels der SPD, denen sie unter Verschleierung der tatsächlichenEntwicklungen ein düsteres Bild von einem bevorstehenden Angriff Russlands auf das unschuldige Deutschland malten. Delbrück wusste, dass die deutsche Arbeiterschaft nicht für einen deutschen Aggressionskrieg, wohl aber für einen patriotischen Verteidigungskampf gegen die zaristische Autokratie mobilisiert werden konnte. Dementsprechend wurde in den letzten Julitagen in Berlin nichts wichtiger, als den Russen bei der Veröffentlichung der Mobilmachungsorder den Vortritt zu lassen. Als diese Order schließlich kam und

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