Der erste Weltkrieg
der Zar ein deutsches Ultimatum vom 31. Juli, seinen Befehl binnen 24 Stunden zurückzunehmen, nicht beantwortete, unterzeichnete Wilhelm II. am Nachmittag des 1. August in einer dramatischen und tränenerfüllten Szene die deutsche Mobilmachung. Infolge dieser Sequenz erschien es dem deutschen Durchschnittsbürger, als seien die Russen die Angreifer. Doch wie der besser informierte Marinekabinettschef Karl Alexander von Müller an jenem Tage seinem Tagebuch anvertraute: «Stimmung glänzend. Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen.»
Moltkes Armeen setzten sich zum Angriff auf Frankreich und Belgien in Bewegung. Am 4. August trat England in den Krieg ein. Der Weltkrieg und das große Sterben hatten begonnen.
III. Der Erste Weltkrieg ‹von oben›: Strategie, Diplomatie und ihre Ziele
War der Weltkrieg von einem kleinen Kreis von Entscheidungsträgern ausgelöst worden, die hauptsächlich in Berlin und Wien saßen und nach dem Missmanagement der Sarajewo-Krise die Flucht nach vorn in den Konflikt mit den anderen Großmächten antraten, wird in diesem Kapitel die Perspektive der Verantwortlichen an der Spitze der kriegführenden Nationen beibehalten, allerdings erweitert auf diverse Eliten und Organisationen – Bürokratien, Parteien, landwirtschaftliche und industrielle Unternehmer, Gewerkschaften –, die in die Entscheidungsprozesse eingeschlossen wurden. Erst im nächsten Kapitel werden wir uns dann der Frage zuwenden, wie der Konflikt «von unten» wahrgenommen wurde, d.h., wie die Soldaten an der Front und die in der Heimat Zurückgebliebenen ihn erlebten.
1. Die Generäle
Jeder Krieg lädt eine besonders große Verantwortung auf die Schultern der militärischen Führer. An ihren Entscheidungen hängt das Leben von zahllosen Soldaten. Ihre strategischen und taktischen Schachzüge bestimmen maßgeblich den Ausgang einer Schlacht oder des Konflikts insgesamt. Es geht um glanzvollen Sieg oder schmähliche Niederlage.
Indessen stellte dieser Krieg, der im Zeitalter der Massenmobilisierung und der industrialisierten Kriegführung zunehmend totaler wurde, die Generäle und Feldmarschälle vor Probleme und Zwangslagen, die jenseits ihres Erfahrungshorizonts lagen und denen sie häufig eigentlich kaum gewachsen waren. Viele Situationen, in denen sie sich nach Kriegsbeginn befanden, waren ohne Vorbild, und es war fast unvermeidlich, dass schwere Fehler und Fehleinschätzungen eintraten. Einige Militärs ahntenschon vor 1914, dass Kriege unter Großmächten im 20. Jahrhundert gar nicht mehr zu gewinnen waren. Der ältere Helmuth von Moltke, der als Generalstabschef die deutschen Armeen siegreich gegen Frankreichs Napoleon III. geführt hatte, hatte im hohen Alter aus seinen Einsichten die Konsequenz gezogen, dass die Friedenserhaltung die größte Aufgabe der Verantwortlichen in Europa war. Ein zukünftiger «Volkskrieg» unter den Großmächten war seiner Ansicht nach nicht mehr denkbar.
Unterdessen blieb die ganze Ausbildung der Offizierkorps auf die Vorbereitung und Führung eines ebensolchen Krieges gerichtet. Sollte diese Ausbildung nicht zu einem Absurdum werden, gab es nur einen Ausweg aus dem Dilemma: Kriege konnten nur Blitzkriege sein. Sie mussten schnell und unter Einsatz aller Mittel und Kräfte gewonnen werden. Gelang der entscheidende Durchbruch nicht sehr früh und begann ein Ermattungskrieg, war alles verloren. Selbst der Sieger würde aus dem Konflikt am Ende als Verlierer hervorgehen.
Aus diesem Grunde wurde der Blitzkrieg – wie ein Hammerschlag vorgetragen – für alle Generalstäbe zur Doktrin, die Moltkes Friedensbewahrungskonzept nicht akzeptieren mochten. Mit diesem Hammerschlag sollte der Feind nicht nur militärisch vernichtet, sondern auch wirtschaftlich so geschwächt werden, dass die Vorherrschaft des Siegers auch auf längere Sicht gesichert war. Die Franzosen sprachen von der «attaque brusque»; die Deutschen wollten Frankreich in wenigen Wochen schlagen, bevor sie einen zweiten Blitzkrieg im Osten gegen Russland führten. Die Habsburger verfolgten dasselbe Konzept auf dem Balkan, und auch in England war man überzeugt, dass nur ein energisch und kraftvoll vorgetragener Angriff den militärischen Erfolg bringen könnte. So lebten Europas Generäle unter der «Illusion des kurzen Krieges», wie der amerikanische Historiker Lance Farrar es genannt hat, mochte ihnen auch dunkel schwanen, dass ihr Konzept im 20. Jahrhundert durch
Weitere Kostenlose Bücher