Der erste Weltkrieg
die nun anstelle von Reformen und Reformversprechen in die öffentliche Debatte geworfen wurde. Hugenberg hatte diese Antwort in seiner Stellungnahme vom Oktober 1914 auch bereits formuliert. Um innenpolitische Schwierigkeiten zu vermeiden, sei man gut beraten – so erklärte er –, die Aufmerksamkeit der Leute abzulenken und Wunschvorstellungen über eine territoriale Expansion des Reiches Spielraum zu geben.
Es lohnt, sich Hugenbergs Worte fest einzuprägen, nicht zuletzt, weil sie tendenziell auch für die Politik des Zarenreichs galten: Die Verkündung grandioser außenpolitischer Kriegsziele,die von den Problemen und Erfordernissen der Innenpolitik ablenkten, wurde zu einem Palliativ für Reformen. Wir werden weiter unten zu analysieren haben, wie gerade die Kriegszieldiskussion in Deutschland die Polarisierung der Kräfte förderte; wie die Verknüpfung der Idee eines harten Siegfriedens mit Annexionen mit einer wachsenden Friedenssehnsucht und der Erwartung auf innere Veränderungen zusammenstieß. Wer die Kriegszieldebatte anfachte, war insofern im Vorteil, als durch sie nationalistische Gruppen mobilisiert und bei der Stange gehalten werden konnten. Der Nachteil, den man aber bewusst in Kauf nahm, war der Zerfall von Gesellschaft und Politik in zwei hochpolitisierte feindliche Lager. Denn je stärker die offizielle Propaganda sowie die der Rechten, voran des ADV, einen harten Siegfrieden mit Annexionen anstrebten, umso heftiger regten sich die Proteste der Reformer und Friedenswilligen. Es war der Boden, auf dem sich der Zusammenbruch der Monarchien in Zentral- und Osteuropa vorbereitete.
IV. Der Erste Weltkrieg ‹von unten›: Front und Heimatfront
1. Bevölkerung und Kriegsausbruch
Während die Staatsmänner und Diplomaten Bündnisse aushandelten und Ministerialbürokraten zusammen mit den Führern aus Industrie und Landwirtschaft fern der Front die Produktion und Versorgung zu organisieren versuchten; während Professoren und Journalisten in ihren Studierstuben patriotische Zeitungsartikel und Pamphlete verfassten und die Generäle den nächsten Großangriff vorbereiteten, erfuhren Millionen von einfachen Soldaten und Zivilisten den Weltkrieg auf eine andere Weise.
Im August 1914 hatten sie alle den Kriegsbeginn auf zahllosen Massenversammlungen und Demonstrationen in Städten und Dörfern noch gemeinsam erlebt. Fragt man nach ihren Reaktionen auf die dramatischen Ereignisse Ende Juli und Anfang August, wird man zwei Faktoren bedenken müssen. Erstens glaubten sie alle – gleich welcher Nation sie auch angehörten –, dass ihr Land das angegriffene war. Selbst wenn wir heute wissen, dass die Eskalation der Krise bis zum Weltkrieg in erster Linie von den Entscheidungsträgern in Wien und Berlin ausging, waren die Deutschen und Österreich-Ungarn durchweg überzeugt, von den anderen Großmächten in einen Verteidigungskrieg gestürzt worden zu sein. Diese Überzeugung dominierte mutatis mutandis auch die Einstellungen der Franzosen, Russen und Engländer.
Zum Zweiten hatten die allermeisten von denen, die zu den Versammlungen strömten und sich die Verlesung der Kriegserklärungen anhörten, keine Ahnung, was für ein Krieg ihnen bevorstand. Zwar hatte es vor 1914 einige Stimmen gegeben, die warnten, dass ein Krieg zwischen den industrialisiertenGroßmächten Europas für Wirtschaft und Gesellschaft katastrophale Folgen haben würde; doch wurden diese Schriften und Reden von der Bevölkerung nie richtig rezipiert. Auch wenn etwa die deutschen Sozialdemokraten vor ihren Wählern vom «großen Kladderadatsch» sprachen, so dachten sie eher an die progressiven Veränderungen, die die Konflikte zwischen den Kolonialmächten, das Ringen um Märkte und die erwartete Krise des Kapitalismus für die proletarischen Massen bringen würden. Wie ein Zukunftskrieg an der Front und Heimatfront im Einzelnen ablaufen würde, darüber gab es nur vage Stammtischvorstellungen. Und wer damals Science-Fiction-Romane las, war eher von der dort liebevoll geschilderten utopischen Technologie fasziniert und dachte über die Tödlichkeit neuer Waffen und Kriegsmaschinen nicht weiter nach.
So kam es, dass in der Bevölkerung meist Vorstellungen von einem zukünftigen Krieg bestanden, die aus den Erfahrungen mit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 stammten. Man erwartete einen kurzen Zusammenstoß zwischen zwei Armeen, aus dem die eine schnell als Sieger hervorgehen würde. Dass es gegen Ende jenes Konfliktes zu
Weitere Kostenlose Bücher