Der erste Weltkrieg
Manifestationen eines totalen Volkskrieges gekommen war, hatten bis 1914 selbst viele Berufsoffiziere, die es besser hätten wissen müssen, verdrängt. Folglich machte im August das Wort die Runde, dass man bis Weihnachten des Jahres wieder zu Hause sein werde.
Während der Glaube an einen schnellen Sieg der eigenen Seite die versammelten Massen gewiss beflügelte, haben neuere Forschungen gezeigt, dass die Begeisterung selbst für einen kurzen Verteidigungskrieg wohl doch nicht so groß war, wie sie über Jahrzehnte hinweg in den Geschichtsbüchern geschildert worden ist. Wer zu den Versammlungen ging und sich die patriotischen Reden der Politiker anhörte, wurde vielleicht mitgerissen, wenn die Zuhörer um ihn herum in Jubel ausbrachen. Aber so mancher scheint auch deshalb gejubelt zu haben, weil ein dumpfes Schweigen in dieser Umgebung Unverständnis und Feindseligkeit hervorgerufen hätte. Erst auf dem Weg nach Hause kehrte dann die Nachdenklichkeit zurück.
Es spricht daher vieles dafür, dass ein Mitglied des Hamburgersozialdemokratischen Jugendbundes die Stimmung Anfang August 1914 in seinem Tagebuch recht treffend wiedergab, wenn er schrieb: «Die Aufregung der Bevölkerung, die sich schon vorher im panikartigen Ansturm auf die Sparkassen und Lebensmittelgeschäfte geäußert hatte, wuchs. Die meisten Menschen waren niedergeschlagen, als wenn sie am folgenden Tag geköpft werden sollten.» Und ein älterer Sozialdemokrat aus der Hansestadt bemerkte einige Tage später: «Vor dem Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof fanden sich Tag für Tag viele Genossen ein. Wir standen dem Treiben ziemlich verständnislos gegenüber. Viele fragten sich: ‹Bin ich verrückt oder sind es die anderen?›»
Auch in den Dörfern Frankreichs war die Stimmung eher ernst. Und doch kam es nach den Mobilmachungserklärungen nicht zu Demonstrationen gegen den nun beginnenden großen Krieg. Wo die Wehrpflicht bestand, folgte man willig dem Gestellungsbefehl und fand sich in der Kaserne oder am Bahnhof zum Transport an die Front ein. Wo – wie in England – nur ein kleines Berufsheer bestand, meldeten sich die Freiwilligen in großen Scharen für eine kurze Ausbildung, ehe sie mit der British Expeditionary Force nach Flandern und Nordfrankreich geschickt wurden.
Von diesem Zeitpunkt an waren die Erfahrungen des Krieges zwischen Front und Heimatfront sehr verschieden. Zwar brachen die Verbindungen der Soldaten zu ihren Familien nie ab. Die Feldpost stellte Briefe und vor allem zu Weihnachten 1914 Unmengen von Festpaketen zu. Viele kamen auf Urlaub wenigstens für kurze Zeit nach Hause. Doch oft stand zwischen den jungen Männern, die zurückkehrten, und ihren Angehörigen eine psychische Mauer, einfach weil die Welt der Schützengräben und Unterstände im Zeitalter industrieller Kriegführung eine völlig andere war als die der Heimat. Wie konnte man den Horror, den man an der Front erlebt hatte, einer besorgten und verängstigten Mutter beschreiben? Da fehlten vielen Urlaubern einfach die Worte. Erst gegen Ende des Krieges kam es zu einer Wiederannäherung, als die Friedenssehnsucht – wie sie im nächsten Kapitel einschließlich ihrer revolutionären Folgendarzustellen sein wird – sowohl an der Front als auch in der Heimat immer größer wurde.
2. Die Totalisierung des Krieges an der Front
Der Erste Weltkrieg war im Herbst 1914 im Westen wie im Osten zuerst ein Bewegungskrieg. Dabei gab es unter den Truppen sofort große Verluste. Aber auch die Zivilbevölkerung wurde vor allem in Belgien sofort schwer getroffen. Frauen und Kinder verloren zu Dutzenden das Leben. Die Zerstörung von Dörfern und Städten durch die vormarschierenden deutschen Truppen war z.T. gnadenlos. Als es nach dem Einschwenken in Flandern mit Richtung auf Paris dann zur Marne-Schlacht und zur Zurücknahme der deutschen Armeen auf eine Linie von Albert bis Soisson und Reims kam, verfestigte sich die Front. Der Stellungskrieg begann. Beide Seiten bauten im Eiltempo Schützengräben und Unterstände, deren Netzwerk sich schließlich in einem großen Bogen von Ypern in Belgien bis Verdun in Lothringen erstreckte. Entlang dieser über 700 Kilometer langen Kampflinie schachteten die beiden Seiten einschließlich aller Nachschub- und Rückzugsgräben Erde über nicht weniger als 40.000 Kilometer aus.
Zwar gab es nach der Marne-Schlacht immer wieder verlustreiche Versuche, die gegnerische Front zurückzurollen oder gar den kriegsentscheidenden Durchbruch zu
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