Der erste Weltkrieg
Territorialgewinne auf Kosten des Osmanischen Reiches zu erzielen. Wie stark dieser Drang nach Südwesten unter den russischen Eliten war, zeigte sich noch im Frühjahr 1917, als sich Russland bereits im revolutionären Aufruhr befand. Während die im Februar spontan «von unten» gewählte Rätebewegung den sofortigen Frieden ohne Annexionen und Reparationen forderte, kleidete Außenminister Paul Miljukow die Frage der Bündnisverpflichtungen und Kriegsziele in so sybillinische Worte, dass er auf Druck der von den kriegsmüden Massen getragenen Sowjets zurücktreten musste.
Das Habsburger Reich visierte relativ bescheidene territoriale Zugewinne an, vor allem an der nordöstlichen Grenze mit Russland und im Süden gegenüber Italien. Es verlangte auch eine Neuordnung der Grenzen auf dem Balkan. Dagegen entwickeltedas Deutsche Reich recht exorbitante territoriale Ziele. Dabei konzentrierten sich Berlins Forderungen weniger auf zusätzliche Kolonialerwerbungen in Übersee als auf die Errichtung eines «blockadefreien» Raums auf dem europäischen Kontinent.
Die Wurzeln für dieses Programm gehen auf die Zeit vor 1914 zurück und sind in der Einsicht zu suchen, dass Wilhelm II. mit seiner «Weltpolitik» und dem Traum vom Erwerb großer überseeischer Gebiete um 1911/12 endgültig gescheitert sei. Seitdem konzentrierte sich die Rüstungspolitik nicht mehr auf den Ausbau der deutschen Seemacht, sondern auf eine Stärkung der Landstreitkräfte, die bis dahin im zweiten Glied hinter dem Schlachtflottenbau gestanden hatten. Mit diesem Wechsel richtete sich auch der Blick der deutschen Außenpolitik auf den Osten und Südosten. Man wollte die dortigen, vornehmlich agrarischen Länder als Teil eines «informal empire» ökonomisch an sich binden. Allerdings gab es auch vor 1914 schon Stimmen – vor allem in der militärischen Führung und unter preußischen Konservativen –, die eine direkte Einverleibung dieser Regionen befürworteten.
Deren Kalkül fasste General Wilhelm Groener, der vor 1914 der Chef der Eisenbahnabteilung des Generalstabs und im Kriege Leiter des Kriegsamts gewesen war, im Jahre 1919 rückschauend wie folgt zusammen: «Wir haben unbewusst nach der Weltherrschaft gestrebt – das darf ich natürlich nur im allerengsten Kreise sagen, aber wer einigermaßen klar und historisch die Sache betrachtet, kann darüber nicht im Zweifel sein –ehe wir unsere Kontinentalstellung fest gemacht hatten.» Diese Kritik war – wie Tirpitz als deren Hauptzielscheibe schon 1915 meinte – die «Ansicht zahlreicher Kreise in der Armee und anderer rechtsstehender Kräfte». Die Deutschen «hätten zwar Machtpolitik treiben müssen, aber Kontinentalpolitik. Erst die Feinde auf dem Kontinent niederringen, dazu alles in das Heer stecken.… Welt und Flottenpolitik ist ‹verfrüht› gewesen. Wir haben uns ‹übernommen› mit der Marine.»
Vor dem Hintergrund solcher Einschätzungen der wilhelminischen Weltpolitik und der Rückbesinnung auf eine europäischeKontinentalposition sind nun auch die weitreichenden Annexionspläne zu sehen, die die deutschen Industrie- und Agrareliten bald nach Kriegsbeginn entwickelten. Noch im August und September 1914 erhielt Bethmann zahlreiche Eingaben, die sich auf den Territorialerwerb im Westen oder Osten Europas bezogen. In Erwartung eines schnellen Sieges im Westen, fasste der Reichskanzler am 9. September diese Pläne in einer Denkschrift zusammen. Nach seinen Überlegungen sollten Luxemburg und die östlichen Teile Belgiens dem Reich einverleibt werden. Das übrige Belgien war als eine Art Vasallenstaat konzipiert. Frankreich sollte vor allem das Schwerindustriegebiet von Longwy-Briey verlieren. Des Weiteren sah die Denkschrift vor, alle westeuropäischen Länder in einer Zollunion unter deutscher Führung zusammenzuschließen, die Skandinavien und später auch Polen umfasste.
Denn nachdem Berlin die Polen anfangs noch dem Habsburger Reich überlassen wollte, dachte Bethmann ab 1916 mehr an die Schaffung eines weiteren Vasallenstaats und eines «Grenzstreifens» gegen Russland. Des Reichskanzlers berühmt-berüchtigte September-Denkschrift scheint indessen nicht nur als Antwort auf die vertraulichen Eingaben der Wirtschaft entstanden zu sein, sondern auch als Reaktion auf eine Kriegszielerklärung, die der ultranationalistische Alldeutsche Verband (ADV) am 28. August veröffentlicht hatte und in der riesige Gebietserwerbungen vor allem auf Kosten Russlands gefordert wurden.
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