Der Esper und die Stadt
Ratschläge für die Zukunft geben, egal, wo er auch gerade war. „Frage ihn.“
Ich ging zu ihm hin, nahm Platz und wartete darauf, daß er mich ansah und ich meine Fragen stellen konnte. Er saß mit geschlossenen Augen da und war sehr alt, mager, würdevoll und nett.
Ohne die Augen aufzumachen, sagte er: „Ich bin glücklich, daß du deinem Leben ein Ziel gegeben hast. Ich habe niemals versucht, andere Seelen zu lokalisieren. Ich habe nur versucht, mit ihnen eins zu werden und alles mit ihnen zu teilen. Ich glaube, deine Seele ist in Gefahr, weil du dich nicht verschließen kannst und für das Böse in den anderen stets erreichbar bist. Du darfst dem Bösen in den anderen keinen Widerstand leisten. Du mußt ihm mit Sympathie begegnen, es verstehen und lieben. Sonst kannst du nichts tun. Es gibt keine Sicherheit, denn in dir sind keine Mauern.“ Seine Stimme war alt und zittrig.
Er rutschte unbehaglich hin und her und strich über seinen Bart. „Aber jetzt sehe ich, daß du ungeduldig und ohne Furcht bist und nur Worte über deine Gabe des Leutefindens hören möchtest. Ich kann dir nur folgendes sagen: Der beste Weg, die Zukunft zu sehen, sind die Träume. Ich glaube, du solltest eine kleine Taschenlampe und ein Notizbuch neben deinen Schlafsack legen. Ich will dir gerne mein Licht und meine Tafel leihen.“
Ich wollte zwar gar nichts über die Zukunft erfahren, aber ich dankte ihm und nahm sein Licht und seine Tafel. Als ich einschlief, hörte ich die leise Musik aus den Ohrlautsprechern der anderen, die ebenfalls in ihren Schlafsäcken lagen. Der alte Mann sprach ein Gebet. „Er möge aufwärts treiben mit den Gezeiten des Lichts, nicht abwärts mit denen der Dunkelheit. Möge er nur Seelen retten, die auch gerettet werden wollen. Wen immer er auch bewahrt, laß ihn wissen im Traumland; laß sie Freunde werden und sich darauf vorbereiten, die Oberwelt zu sehen.“ War das Gebet für ihn oder für mich?
Immer wenn ich träume, werde ich ein anderer. Oft träume ich, daß ich Biggy bin, der früher in unserer Straßenbande war, jetzt erwachsen ist, Ziegenherden hütet und von der Exil-Pension lebt.
Aber als ich diesmal zu träumen anfing, war ich jemand in New York.
2
Die rote Neonschrift am Himmel blinkte:
DU BIST NICHT ALLEIN!
Verwirkliche dich,
gehe deinen Interessen nach,
suche einen Partner,
finde zu dir selbst,
mit „Harmonie“-Persönlichkeitsdiagnose
und Partnerschaftsdienst.
Carl Hodges war allein. Er stand in einem verwaisten, ruinierten Teil der Stadt und sah das rote Leuchten der Werbung, die sich vom nebeligen Nachthimmel New Yorks abhob und wie eine flackernde, rote Flamme blinkte. Er wußte, was das Leuchten sagte. Du bist nicht allein.
Er schloß die Augen. Tränen quollen unter seinen geschlossenen Lidern hervor. Er verdammte den Tag, an dem er gelernt hatte, mit Zeitspuren umzugehen. Es war leicht, sich zu erinnern und zu Susanne zurückzukehren; er konnte sogar den Augenblick sehen, in dem sein Mädchen auf dem Surfbrett vor dem Abhang einer steilen Wellenfront hergejagt war. Er sah sogar den Bug des Brettes auf dem sich kräuselnden Wasser und die Welle, die es anhob, immer höher werden, bis sie umkippte und wie ein Axtblatt niederschlug.
Denk an etwas anderes!
„Wieder am Heulen, Paps?“ sagte eine junge, freche Stimme. Eine Hand preßte zwei Tabletten vor seinen Mund. „Hier, Glückspillen. Kein Grund zum Heulen, ’s ist ’ne gute Welt.“
Gehorsam nahm Carl Hodges die Pillen in den Mund und schluckte. Die Erinnerungen und der Kummer würden bald aufhören, ihn zu schmerzen. Sie würden vergehen. Denk an was anderes. Ans Arbeiten? Ja, er sollte wirklich arbeiten gehen und einen Job ausfüllen, statt nichts zu tun und bei weggelaufenen
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